Schwester

Zwei Schwestern, ein Unfall und die Frage, wie geht es mit meinem Leben weiter – das ist der Kern des neuen Romans von Mareike Krügel.
Die Hebamme Lone liegt nach einem Unfall im Koma, ihre Schwester Iulia (mit I,römische Antike, Spezialgebiet des Vaters der Beiden) übernimmt es, die Frauen, um die sich Lone akuell als freuberufliche Hebamme kümmerte, zu besuchen. In den Kapiteln des Buches bewegt sich Iulia, Pfarrersfrau und Bankangestellte, immer auffälliger zwischen zwei Welten und weiß zunächst noch nicht, wohin es führt, sich so intensiv in Lones Leben hinein zu begeben. Die Kapitelüberschriften zitieren jeweils einen Liedtitel aus einem Album von Simon & Garfunkel – diese CD hat eine tiefgehende Bedeutung für die beiden Schwestern und das letzte Stück bringt logischerweise auch eine Entscheidung für Iulia mit sich. Musik spielt eine entscheidende Rolle bei den Beiden, die Beschreibung des gemeinsamen Musikmachens der noch jungen Schwestern aus der größten Einsamkeit heraus berührt tief.
Das Buch ist durch die Schilderung der zwei Welten aus sich heraus spannend und mitreißend. Die Hinweise auf den Klinikalltag einer Hebamme und die Entscheidung Lones, sich selbstständig zu machen, sind in ihrer Deutlichkeit und Logik sehr fassbar. Die Autorin kennt sich in dem Feld offenbar aus und das Geschriebene kann durchaus auch als kompetente Abhandlung der Mängel des Systems, der dadruch entstehenden Übergriffigkeit, gelesen werden. Jedenfalls erscheint Lones Entscheidung, als Hebamme freiberuflich zu arbeiten sinnvoll und verständlich. Die eingestreuten Geschichten der besuchten Frauen sind teilweise erschütternd, vielleicht manchmal ein bisschen unglaubwürdig referierend, wenn eine junge Mutter druckreif Stellung nimmt zu den Mängeln eines Krankenhaussystems, vor dem sie flieht. Das ist jedoch verzeihlich im Zusammenhang des Gesamtromans und für die inhaltliche Konsistenz eigentlich auch notwendig.
Vor dem Hintergrund des Aufwachsens der beiden Schwestern in einer Patchworkfamilie wird die Bindung der Beiden, auch in ihrer Brüchigkeit und Gegensätzlichkeit, sehr spürbar und in gewisser Weise auch (ohne Kitsch) rührend. Das wird an der Haltung der Mutter/Stiefmutter sehr elegant deutlich. Die Nebenfiguren sind alle glaubwürdig, die Autorin hat jede einzelne Figur freundlich, sorgfältig und gleichzeitig scharfsichtig gestaltet.
Iulia, als von der Mutter verlassenes Kind, entscheidet sich als Erwachsene für einen „allwissenden“ Mann und die Klarheit einer Bankstruktur, der Duft des Teppichs bewirkt bei ihr Ruhe und Effizienz. Lones „Das sehen wir dann“ – Einstellung steht Iulias Sicherheitsbedürfnis eigentlich entgegen und genau das ist es, worum es in ihrer Entwicklung aber geht: frei entscheiden, was richtig ist. Selbstbestimmung und Abwehr von Übergriffigkeit, auch ganz körperlich gemeint, sind sicherlich zentrale Themen in diesem Buch.

Der Roman erfasst unübliche Schicksale und verbindet sie mit, aus meiner Sicht, relevanten Themen unserer Gesellschaft. Mareike Krügel verzichtet auf Pathos und Klischees, stattdessen hat sie einen wirklich spannenden und gegenwartsorientierten Roman geschrieben, der Themen aufgreift, die nicht gar so populär sind und doch sehr wesentlich den Zustand unserer Welt mit bestimmen.

Mareike Krügel, Schwester, Piper Verlag 22 Euro