In Tibet

Dieser Roman wurde im NDR „Am Morgen vorgelesen“ und fand dadurch zum Glück viele Leserinnen und Leser. Er ist ein feines, ganz erstaunliches Buch, das mir sehr gut gefallen hat. Der Autor reist regelmäßig in abgeschiedene Gegenden und entzieht sich bewusst, so oft es geht, dem modernen, dem Konsum hörigen Leben – abenteuererfahren schließt er sich also der Expedition des Naturfotografen Vincent Munier an, der im tibetischen Gebirge, zu Fuß unterwegs, einen Schneeleoparden finden will. Der König des Himalaya lebt dort noch in einigen Gegenden. Die philosophische Betrachtung des Umgangs der Menschen mit der Natur sind das Eine, beeindruckend ist aber auch Tessons Schilderung der kargen, unwegsamen, eigentlich menschenfeindlichen Gegend auf 5000 Meter Höhe. Diese Natur hat eigene Gesetze und weiß, wie sie mit den Eindringlingen umgehen muss. Die Textpassage, die anhand verschiedener Beispiele erzählt, wie der Leopard selbst den Menschen beobachtet, endet mit diesem Satz: „Er erhob sich und reckte den Hals in unsere Richtung. Er hat uns gesehen, dachte ich. Und jetzt? Wird er sich auf uns stürzen? Er gähnte. So viel zur Wirkung des Menschen auf den tibetischen Leoparden.“
Die Lesende wird selbst ganz still und ehrfürchtig, denn die Lauer erfordert Geduld und die Fähigkeit, mit der beißenden Kälte im Himalaya zurecht zu kommen und mit den eigenen Gedanken, die unweigerlich aufscheinen, umzugehen. Die oft tiefgründigen Gedanken, die Tesson erzählt, bricht er selbst immer wieder durch lapidare Sätze wie den eben zitierten. Dadurch bleibt das Buch „leicht“ und wird nicht zu einem moralischen Appell.
Ein Buch für Menschen, die es nicht langweilig, sondern erhebend und belebend finden, sich einen ganzen Roman lang der Natur auszusetzen und dem Nachdenken eines gerne einsam lebenden Autoren zu folgen. Es lohnt sich.

Sylvain Tesson: „Der Schneeleopard“
Aus dem Französischen von Nicola Denis
Rowohlt Verlag, 20 Euro