Leseerlebnis: Lutz Seiler, Stern 111

Der Roman wurde mit dem Preis der Leipziger Buchmesse ausgezeichnet (siehe auch: https://prosa-buchladen.de/leseerlebnis-lutz-seiler-stern-111/) und das mit Recht.
Erzählt wird die Geschichte von Carl Bischoff, aus Gera stammend, der 1989 mit dem Shiguli seiner Eltern, ein Auto russischer Bauart, nach Berlin fährt. Zunächst lebt er im Auto und wird dann von Ragna gerettet, als er schwer krank in einen Hinterhof gerät. Ragna gehört zum „Klugen Rudel“. Das Kluge Rudel kümmert sich um die verfallenden Häuser am Prenzlauer Berg, indem es diese bewohnt, Strom anmeldet und herrichtet. Carl, der Dichter werden will, schließt sich dem Rudel an, gründet die Assel, die erste Untergrundkneipe Berlins, mit und verdient sich dort sein Brot. Eine Wohnung bekommt er natürlich auch und dort wandert er auf und ab, mit einem Gegenstand den Takt zum entstehenden Gedicht in die Hand klopfend. Das wirkt sich auf den Takt des Textes aus, der wunderbar rhythmisch durch das anarchische Jahr 89/90 führt. Ein zweiter Erzählstrang bildet das Leben von Carls Eltern, die sich zwei Tage nach Mauerfall entschließen, in den Westen zu flüchten, zunächst ins Durchgangslager Gießen, dann „getrennt weiter“. Die Schilderung ihres Weges, die Arroganz der Westler gegenüber den „doofen“ Ostlern sind großartig gelungen. Am Ende klärt sich auf, was die Eltern antrieb und worin das besondere Verhältnis, das Carl zu seinen Eltern hat, begründet liegt. In Carls Welt scheinen die wunderbaren Utopien der Nachwendezeit auf, das noch-nicht-kapitalistische Denken sondern das den Menschen-sehende-Handeln und es löst Wehmut aus ob der verlorenen Chancen. Dieses Buch hat viele Inhalte, es ist beeindruckend gut geschrieben und lässt die Lesenden in dieser Zeit verschwinden und/ oder vieles wiederentdecken, das schon mal gewusst wurde.

Suhrkamp, 24 Euro