Das besondere Buch: „Tell“ von Joachim B. Schmidt

Eine positive Überraschung war für mich die Lektüre des neuen Romans von Joachim B. Schmidt, „Tell“. Schmidt ist der Autor des ebenfalls sehr besonderen Romans „Kalman“, in dem ein junger Mann auf Island die Hauptrolle spielt, der als selbsternannter Sheriff eines kleinen Dorfes den Überblick behält und nebenbei einen Mordfall auflöst.

In „Tell“ erfahren wir aus der Sicht von zwanzig Stimmen die Geschichte des Wilhelm Tell, der als armer Bergbewohner, potenzieller Wilderer und höchst grantiger Charakter den Ruf eines Aufrührerischen hat. Die Obrigkeit versucht, jedweden Protest der Bevölkerung gegen ausufernde Unterdrückung mit härtesten und unsinnigsten Strafen und Verhaltensmaßregeln zu unterbinden. Wilhelm gerät ungeplant direkt ins Herz dieser Maßnahmen und wird, soviel kann gesagt werden, da es allgemein bekannt ist, gezwungen, seinem Sohn Walter einen Apfel vom Kopf zu schießen. Mit einer ihm fremden Armbrust. Wie bekannt, gelingt ihm dieses.
Das „Vorher“ und das, was nachher geschieht, wird in diesem Roman in fast hundert kurzen Abschnitten aus der Sicht verschiedenster Beteiligter erzählt. Was sich anstrengend und verwirrend anhört, entpuppt sich beim Lesen als rasender Blockbuster, als spannungsgeladene Geschichte, der sehr gut zu folgen ist und die wirklich mitreißend, vor allem aber auch empathisch erzählt ist. Etliche Sequenzen, in denen Wilhelms Sohn Walter das Wort hat, sind so gut erzählt, dass Leser und Leserin schier das Atmen einstellen. Schmidt macht sprachlich ein Leben in der rauen Bergwelt der Schweiz fühlbar und entführt in das emotionale Sein von Menschen, denen kaum gesellschaftliche Freiheit erlaubt war, die dagegen täglich neu ums Überleben kämpften.
„Der Winter kommt. Der Boden ist hart, die Eisschicht im Brunnen wird immer dicker. Die Sonne blitzt nur noch kurz zwischen den Berggipfeln auf….Wenn ich in die Vorratskammer blicke, stockt mir der Atem.“

Joachim B. Schmidt, Tell, Diogenes Verlag, 22 Euro