Jakob Hein, Der Hypnotiseur – die letzten Jahre der DDR aus überraschendem Blickwinkel

Jakob Hein erzählt in diesem Buch von einem jungen Mann, der den alten Bauernhof der Großmutter erbt und dort, in Ermangelung einer sonstigen Einnahmequelle, eine Fertigkeit perfektioniert, die er aus seinem abgebrochenen Psychologiestudium mitgebracht hat: Micha bietet an, unter Hypnose eine Reise zu erleben. Natürlich werden es Westreisen, denn den Westen kann zu diesem Zeitpunkt, Mitte der Achtziger Jahre, noch kein junger Mensch aus dem Osten bereisen. Der Roman schildert jeweils aus der Sicht verschiedener Personen die Geschichte von Michas Hof, beginnend mit Lieselotte Sawidski, die in dem kleinen Dorf lebt und den Hof mit Argusaugen beobachtet. Das Untere Odertal, am Rande der Republik, scheint geordnet, jeder kennt jeden und jede und weiß natürlich auch alles.

Micha empfängt seine Gäste und bringt sie im einzigen vorzeigbaren Raum des Hofes unter. Die Hypnose wird angeboten, bezahlt wird aber mit einer Spende für die Lebenshaltungskosten. Anika ist die erste, die sich für eine Woche bei Micha einmietet, um endlich einmal nach Paris zu reisen. Die Obsessivität, mit der Anika Paris huldigt, beschreibt Hein anhand der Saufzüge, die Anika mit ihrer Freundin unternimmt. Diese hat ihr auch die Adresse des Hofes vermittelt, die in Insiderkreisen in Berlin herumgereicht wird. Mit Anika nimmt die Hypnosetätigkeit an Fahrt auf, denn sie kündigt ihren Job und zieht bei Micha ein, übernimmt die Sanierung des Hofes und Professionalisierung des Könnens von Micha. So nach und nach lernen wir auf dieses Weise verschiedene Menschen kennen, die entweder bei Micha Reisen erleben, oder, wie Simone, Dorfbewohnerin sind und dem Treiben auf dem Hof mehr als skeptisch gegenüberstehen. Das Schreckliche des DDR-Überwachungsapparates führt letztlich zum Ende des genügsamen und fröhlichen Dorflebens – hier schildert Hein viele Details vom Ende der DDR und dem Leben nach der Wende, das mir zumindest viele neue Erkenntnisse beschert hat.

Ein wirklich erstaunliches und ganz besonderes Buch, das über den Weg der lustigen Anekdote ein ganzes Panorama der untergegangenen DDR entwickelt. Insbesondere die gelungenen Dialoge lassen den Roman zu einem echten Lesevergnügen werden.

Jakob Hein, Der Hypnotiseur oder Nie so glücklich wie im Reich der Gedanken, Galiani Verlag, 20 Euro