Dänemark in den 1920ern

Tove Ditlevsen, Kindheit

Ein schmales Buch, das es in sich hat. Tove Ditlevsen war eine dänische Autorin, die in Dänemark stets viele Leserinnen und Leser fand. In Deutschland gab es bislang als Übersetzung nur einige wenige Bücher, auch der dritte Teil der autobiographischen Kopenhagen-Trilogie „Abhängigkeiten“ war erhältlich. Als Erstübersetzungen erscheinen nun bei Aufbau alle Teile, beginnend mit „Kindheit“.
Diese Kindheit, die wie eine Person erscheint, wird vom Kind gehasst. Sie beginnt im Jahr 1917 und endet Anfang der Dreißiger Jahre mit dem Schulabschluss und dem Eintritt in die sogenannte Erwachsenenwelt, die wiederum auch ihre Tücken bereithält.
In knapper Sprache und doch so verständlich beschreibt Tove ihr Großwerden in einem Arbeiterviertel Kopenhagens als ein Kind, das anders ist. Im Inneren findet ihr Leben statt, nach außen passt sie sich durch Schweigen an und wird doch erkannt als eine Andersartige. Schon früh schreibt sie Gedichte, zu Themen, die einem Kind eigentlich nicht geläufig sein sollten. Doch die Umgebung des Mietshauses, in dem sie mit Vater, liebloser Mutter und Bruder lebt, weiht alle Kinder früh in Arbeitslosigkeit, Trunksucht, „Hurerei“ und Elend ein. Wie Tove das erzählt, berührt durch die Kargheit und Treffsicherheit, mit der die Zusammenhänge auf kleinstem Raum deutlich werden.
Tove Ditlevsen ist eine Entdeckung, die zu einem interessanten Zeitpunkt kommt. Rachel Cusk und Annie Ernaux, beide gerade „en vogue“, schreiben ebenfalls autobiografisch und es ist spannend, die drei im Vergleich zu lesen. Bei Tove Ditlevsen fehlt beispielsweise die Metaebene, auf der Ernaux ihre Erinnerungen reflektiert, das macht die Texte einerseits unmittelbarer, andererseits fehlt die kaum zu umgehende Aufforderung dazu, sich selbst als Lesende ins Verhältnis zu setzen zu den geschilderten Zeitumständen (abgesehen davon, dass die 1920 er Jahre nicht unsere Zeit sind). Tove Ditlevsen erzeugt einen Sog durch die spürbaren Lücken, die sie  in der Skizzierung der Personen lässt und die zum Selbstdenken animieren.
Ich freue mich auf die nächsten Bände, die dieses Jahr erscheinen werden. Zu Rachel Cusk und Annie Ernaux finden Sie unter „Entdeckungen“ weitere Informationen.https://prosa-buchladen.de/annie-ernaux-die-jahre/ https://prosa-buchladen.de/annie-ernaux-eine-frau/  https://prosa-buchladen.de/annie-ernaux-die-scham/ https://prosa-buchladen.de/unterwegs/

Aufbau Verlag 18 Euro, Übersetzung und Nachwort Ursel Allenstein