In einem Dorf auf Sardinien

Michela Murgia, Accabadora

Die Bücher kommen zu den richtigen Zeiten, scheint mir. Gerade habe ich „Kindheit“ von Tove Ditlevsen beinahe verschlungen, da treffe ich auf den Debütroman der sardischen Autorin Michela Murgia. Von ihr hatte ich vor einigen Jahren „Chiru“ gelesen, (die Geschichte einer Frau, die junge Menschen ins Leben, in die Gesellschaft führt) das mich leider gar nicht überzeugen konnte.

Dieses Buch dagegen ist eine Wucht.

Erzählt wird die Geschichte Marias, der Viertgeborenen einer armen Witwe, die in einem kleinen, archaisch anmutenden Dorf auf Sardinien lebt. Maria wird zur fill è anima, zur „Tochter des Herzens“ der kinderlosen Schneiderin Bonaria Urrai, als sie sechs Jahre alt ist. Scheinbar ohne Abschiedsschmerz zieht Maria zu Bonaria um, bekommt ein eigenes Zimmer und darf alle Räume des großen Hauses betreten. Bonaria sorgt für regelmäßigen Schulbesuch und lehrt Maria das Schneiderhandwerk. Das Zusammenleben der beiden wird liebevoll beschrieben und wirkt auch zugewandt und „richtig“ – auch für Maria, obwohl diese die neue Mutter siezt und klar in ihrer Herkunftsfamilie verankert bleibt.

Es gibt ein dunkles Geheimnis, dem Maria nach und nach näher kommt: Bonaria ist eine Accabadora, eine Beenderin, die nachts den Todgeweihten Sterbehilfe leistet. Bis in die Fünfziger Jahre hinein gab es diese auf Sardinien tatsächlich. Im Gesamtzusammenhang der archaischen Lebensrhythmen in dem Dorf Marias erscheint die Tatsache, dass, wie es Hebammen gibt, eben auch Accabadoras notwendig sind, schlüssig und sinnvoll. Aus Sicht Marias, die dem Tun ihrer geliebten Adoptivmutter irgendwann auf die Spur kommt, nicht, und so verlässt sie Sardinien zunächst. Aber sie kommt zurück und löst ihren Teil der Verabredung ein, indem sie sich um Bonaria kümmert.

Die Dunkelheit, das Nichtfassbare und fast ein bisschen Gruselige im Gegensatz zum heiteren Wesen Marias beschreibt Murgia in knappen Sätzen und ohne Sentimentalität. Wir als LeserInnen müssen unsere Haltung selbst finden und so leistet das Buch auch einen Beitrag zum Thema „Sterbehilfe“.

Wagenbach, 10,90 Euro, übersetzt von Julika Brandestini