Bucherlebnis: Das kalte Blut von Chris Kraus

In den vergangenen Tagen über den Feiertag hinweg habe ich das dickste Buch meines Lebens gelesen: „Das kalte Blut“ von Chris Kraus, 1200 Seiten, bei Diogenes im vergangenen Jahr gebunden erschienen, jetzt als Taschenbuch erhältlich.
Chris Kraus hat einen prallen Roman geschrieben, der die Leser*innen durch 65 Jahre des vergangenen Jahrhunderts leitet. Es geht um zwei Brüder und deren wechselvolles Verhältnis zu der (adoptierten) Schwester, um den 2. Weltkrieg und den bundesdeutschen Wiederaufbau am Beispiel des Verfassungschutzes und es geht um geheimdienstliche Machenschaften, die über die BRD weit hinausgehen und natürlich geht es um die Liebe und menschliche Abgründe. Kraus hat, wie im Anhang deutlich wird, ungeheuer viel recherchiert zu den Hintergründen seiner Geschichte um die zwei baltischen Brüder Hubert (Hub) und Konstantin (Koja) Solm, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Riga geboren werden. Beide werden SS- Offiziere, Hub aus Überzeugung, Koja, weil er bis dahin hedonistisch dem Leben gefrönt hat und nun, gezwungen durch veränderte Rahmenbedingungen und weil ihm nichts Besseres einfällt als Broterwerb, einfach so hineingerät in die neue NS-Gesellschaftsordnung, protegiert durch seinen Bruder. Und eben dieser Koja, ein Zeichentalent, ein Maltalent, eigentlich ein, scheinbar auch menschlich, feinsinniger Kerl, gerät durch seine unklare, ich-bezogene Haltung in ein Leben, das am Ende grausam und furchtbar enden wird. Eingerahmt ist die Geschichte durch einen Krankenhausaufenthalt des alten Koja Anfang der neunzehnhundertsiebziger Jahre. Er, mit einer Kugel im Kopf, erzählt seinem Zimmernachbarn sein gesamtes Leben. Dieser, von Koja nur der „Hippie“ genannt, ist selbst schwer krank und wird durch Kojas Geschichte noch viel kränker, was sich im Verlust der Sprache, vordergründig verursacht durch eine weitere Operation am Kopf, zeigt. Die Grausamkeit, die Kojas Leben durchzieht, ist schwer auszuhalten, auch für mich als Leserin sind viele Vorkommnisse, die Koja wie mit einem Achselzucken erzählt, nur mühsam auszuhalten. Dennoch musste ich das Buch zu Ende lesen, weil es äußerst spannend geschrieben ist, fast wie ein Drehbuch zu einem 007- Film.
Rezensionen bekam das Buch im vergangenen Jahr auch: gar nicht so gute, musste ich feststellen. Insbesondere wird die Eindimensionalität der Charaktere beklagt. Das ist mir beim Lesen zwar auch aufgefallen, aber ich habe es eher als Beleg für die Banalität des Bösen (um mit Hannah Arendt zu sprechen) gelesen – Koja hat keine Tiefe, er reflektiert sein Handeln kaum, ihm ist an seinem persönlichen, vor allem auch in Liebesdingen, Wohlergehen gelegen.
Ich empfehle das Buch allen, die Lust auf dicke Schwarten haben, die politisch interessiert sind, die etwas über Geheimdienste und den deutschen Verfassungsschutz wissen wollen. Dieses Buch liefert.

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