Aspekte Literaturpreis für Bettina Wilpert „Nichts, was uns passiert“

Den diesjährigen Aspekte – Literaturpreis bekommt das Buch „Nichts, was uns passiert“ von Bettina Wilpert, erschienen im Berliner Verbecher-Verlag.
Der Titel deutet an, worum es in dem Roman geht: es geht um ein Vorkommnis, das gefühlt nichts mit uns, das sind mehrheitlich Frauen, zu tun hat, nämlich um eine Vergewaltigung. Das passiert anderen, es passiert auf dem Heimweg vom Party-Besuch in einer dunklen Ecke durch Fremde, es passiert beim Trampen in einem Lastwagen. Aber es passiert nicht im linken Student*innen-Milieu, auf Partys im Freundeskreis mit einem Mann, den die Frau bereits kennt. Das Buch erzählt im Ton eines Berichtes von Jonas und Anna, die sich eine Weile kennen und eine Affäre miteinander hatten, aus der aber in beiderseitigem Einvernehmen nichts „Ernstes“ werden soll. Sie treffen sich auf einer Party wieder, betrinken sich extrem und dann passiert es, das, was beide im Verlaufe des Romans unterschiedlich schildern. Für Jonas war der Sex einvernehmlich, denn er hat ja auch ein Kondom benutzt, für Anna war es ein sexueller Übergriff, denn sie hat deutlich „Nein“ gesagt und sich auch gewehrt.
Beide Seiten und Freunde kommen zu Wort, die Zeit, die erzählt wird, reicht bis in die Jugend von Jonas und Anna zurück. Es ergibt sich ein Mosaik aus Erkenntnissen, Erzähltem und Wahrnehmungen, die für die Leserin/den Leser eine Bewertung des Geschehenen schwer macht. Irgendwie haben beide Recht, Jonas ist kein fieser, brutaler Vergewaltiger, aber Anna hat „Nein“ gesagt und er hat es ignoriert. Jonas beschreibt den Alkohol als Hauptursache des Vorgefallenen, glaubt, dass er anders gehandelt hätte, wenn nicht beide so extrem betrunken gewesen wären. Anna schildert ihre Gegenwehr, die durch den Alkohol erlahmte und sagt, dass sie irgendwann gemerkt hat, dass Jonas viel stärker ist als sie und sie nur noch hoffte, dass es schnell vorüber ist.
Der Roman beschäftigt sich also einerseits mit dem konkreten, unterschiedlichen, Erleben der Situation durch Jonas und Anna und andererseits auch damit, wie die Szene, in der die beiden beheimatet sind, mit dem Vorgefallenen umgeht. Wie positionieren sich Freunde und Freundinnen, Bekannte und Kolleg*innen? Was macht ein solches Ereignis mit der Stellung der Betroffenen in der Gesellschaft. All diese Fragen verhandelt Wilpert nüchtern und „unaufgeregt“
Erzähltechnisch interessant ist das Vorhandensein eines nicht näher bezeichneten Berichterstatters, der wie ein Polizeibeamter die Aussagen wiedergibt, teilweise im Stile einer Transskription des Gesagten. Dadurch wird verhindert, dass Betroffenheit den Ton angibt, stattdessen ist die Leserin/der Leser gezwungen, sich selbst beim Lesen wahrzunehmen, die eigenen Gefühle und Haltungen zu erkennen, denn im Text sind keine Bewertungen vorgegeben.

Ich bin sehr beeindruckt von dem Umgang der Autorin mit diesem Thema, das durch #metoo endlich in den Fokus rückt. Das Buch ist meiner Ansicht nach ein Beitrag zu einer Debatte, die noch lange nicht am Ende angekommen ist und durch einen solchen Text eine neue, sehr beachtenswerte Stimme bekommt.

Hier kommt noch ein Link zu einem Bericht mit einem kurzen Interview, das das ZDF mit der Autorin geführt hat.

https://www.zdf.de/kultur/aspekte/aspekte-literaturpreis-2018-bettina-wilpert-100.html