Fordernd, literarisch, überraschend, humorvoll und sehr, sehr irisch liest sich der neue Roman von Sebastian Barry. Ich entdecke diesen großartigen Autoren gerade, der von vielen Seiten als der meistunterschätzte Autor unserer Zeit gepriesen wird.
Tom Kettle, nach 40 Dienstjahren frisch pensionierter Kriminalbeamter der irischen Polizei hat die ersten neun Monate seiner Pensionszeit im Korbsessel verbracht und aus dem Fenster geschaut. „…mit Blick auf den Coliemore Harbour und die irische See. Sich nicht zu rühren, glücklich und nutzlos zu sein, ist für ihn der Sinn und Zweck des Ruhestands“
Mit dem Besuch zweier ehemaliger Kollegen ist diese Zeit vorbei, auch wenn die drei praktisch nichts miteinander sprechen. Zwar wollen sie ihn wohl um Rat bitten in einem alten Kriminalfall, an dem er ursprünglich mal mit gearbeitet hat, aber dies erfahren wir nur durch die Gedanken des durchaus unzuverlässigen Erzählers Tom. Er setzt ihnen ein Gericht namens Welsh Rabbit (Welsh Rarebit, eine Art aufgepeppter Käsetoast) vor (zum Brüllen komisch die Schilderung des nachfolgenden Toilettengangs von O´Casey) und die Beiden müssen auch bei ihm übernachten, weil ein Sturm tobt. Am nächsten Morgen sind sie schon wieder verschwunden, als Tom aufsteht. Aber er weiß, was die Stunde geschlagen hat, in wenigen Andeutungen werden die LeserInnen allmählich gewahr, worum es gehen könnte.
Dieses alles findet, wie gesagt, fast ohne Wortwechsel statt – wir hören Toms innere Stimme, seine Gedanken, Schlußfolgerungen und später teilweise auch nicht realen Wahrnehmungen. Diese, das ergibt sich vor allem aus dem zweiten Teil des Buches, haben ihre Ursache wohl in einer entsetzlichen Kinderheimkindheit und unverarbeiteter Trauer um seine Frau June und die beiden Kinder. All dieses ist unterlegt mit einem extrem trockenen Mutterwitz, der die Freude an der Lektüre dieses langsamen, in Ruhe sich entwickelnden Buches, noch erhöht.
Kinderheimgewalt, Katholizismuskritik, Missbrauch im kirchlichen Rahmen, Verlust geliebter Menschen, Rache – diese harten Themen verbindet Barry mit tiefer Liebe, Freundschaft und Mitmenschlichkeit. Der alte Fall, zu dem die Kollegen Kettle befragen, ist im eigentlichen Sinne kein Fall, so dass ich nicht von einem Krimi sprechen würde. Es geht darum, wie Tom Kettle mit vergangenen Ereignissen und seiner Trauer darüber fertig wird- und dies vor dem Hintergrund der irischen Geschichte.
Grandios.
Sebastian Barry, „Jenseits aller Zeit“, Steidl Verlag, 25 Euro, Übertragung ins Deutsche von Hans-Christian Oeser