Zwanziger Jahre vor hundert Jahren: Neue Romane

In der letzten Zeit bin ich wieder verstärkt auf Literatur aus bzw. über die 1920er Jahre gestoßen. Dabei war auch ein Titel „Johanna“, von Fritz Rosenfeld, der nicht die glamourösen Roaring Twenties thematisiert, sondern anhand des jungen Mädchens Johanna die ebenfalls vorhandenen gesellschaftlichen Bedingungen aufzeigt. Johanna ist das Kind einer armen Tagelöhner-Familie und kommt früh zum billigsten Tarif zu einer Pflegemutter. Bald muss sie sehen, wie sie alleine zurechtkommt, und wie das für alleinstehende Mädchen damals so war: sie wird Haushaltshilfe oder Magd und ist immer wieder den Übergriffen der jeweiligen Hausherrn ausgesetzt, so dass sie ihre Stelle wieder verliert. Die Geschichte endet tragisch. Von jedem Kitsch befreit erzählt Fritz Rosenfeld Johannas Geschichte teilweise nüchtern, teilweise auch in dramatischen Formulierungen. Die Sprache ist der Zeit gemäß, wodurch die Dramatik nicht in Kitsch abrutscht, sondern, im Gegenteil, das Herz erweicht und die Lesenden ganz in Johanna aufgehen lassen. Johanna ist dabei nicht die Heilige Johanna, sondern lässt Dinge geschehen, die sie aus unserer Sicht vielleicht hätte vermeiden können, dadurch wird ihr Charakter und ihr Schicksal vielgestaltig. Es ist keinesfalls ein Buch, dass die Armen glorifiziert, sondern es zeigt vielfältige Verhaltensweisen im Kontext der Zeit auf. Verlag edition atelier, 20 Euro.

Viel fröhlicher ist dagegen „Hintergrund für Liebe“ von Helen Wolff. Helen Wolff ist eine Verlegerin, die vor dieser Karriere diesen einzigen Roman geschrieben hat, der klar biographische Züge trägt. Die Erzählerin berichtet von einer Reise mit ihrem älteren Freund und Geliebten nach Südfrankreich. Er, ganz der Mann von Welt (wundervoll herausgearbeitet), weiht das junge Ding in das „richtige Leben“ an der Cote d´ Azur ein. Leider hat er die Rechnung ohne das Mädchen gemacht. Es sträubt sich gegen so viel Übermacht und findet „seine“ Leute langweilig und diese Art mondänen Lebens überhaupt nicht erstrebenswert. So entschwindet sie heimlich und mietet sich ein kleines Häuschen in St. Tropez. Unvorstellbar, wie das damals dort schön gewesen sein muss, in diesen Orten, die heute voll sind mit Menschen, dem Tourismus anheimgefallen. Der Geliebte findet sie wieder und so beginnen Monate bis zum Anfang des Novembers, die die beiden in einfachster Weise den Sommer erleben lassen. Jetzt, wo wir zuhasue bleiben müssen, ist dieses Buch nochmal so herrlich, auch wegen der klaren und doch abwechslungsreichen, beschreibenden Sprache Wolffs. Marion Detjen, die Großnichte Wollfs hat einen sehr ausführlichen Essay zum „Hintergrund des Hintergunds“ geschrieben. Weidle Verlag, 20 Euro, Einbandillustration von Kat Menschik.


Viele von Ihnen erinnern sich bestimmt an das wundervolle Buch „Ein Festtag“ von Graham Swift. Dieser herrliche Roman erzählt eine Liebesgeschichte in den 1920er Jahren, eine Geschichte vom Aufstieg und er erzählt von Menschen, die in Rollen zu leben haben, die ihnen nicht gemäß sind. Unter „Entdeckungen“ auf dieser Seite finden Sie ziemlich weit unten eine ausführliche Besprechung. Nun hat Graham Swift ein neues Buch geschrieben „Da sind wir“, das gerade eben in deutscher Sprache (Ü: Susanne Höbel) erschienen ist (dtv, 20 Euro) Wir befinden uns hier in den 1950er Jahren im mondänen Seebad Brighton, es geht wieder um die Liebe, aber auch um Magie und die Frage, wieviel Zauberei vermag. Ich war wieder sehr eingenommen von der wunderbaren Sprache Swifts. Also wer „Ein Festtag“, das hier ja wegen des zeitlichen Hintergrunds das Thema sein sollte, schon gelesen hat, darf gerne kurz die Zeit wechseln und sich in die 1950er begeben.


Aber bleiben wir beim Thema: Anthony Powell hat eine Serie geschrieben, die im Original 12 Bände umfasste und nun bei dtv im Taschenbuch erschienen ist, Titel der Serie ist „Ein Tanz zur Musik der Zeit“. Der erste Band „Eine Frage der Erziehung“ beginnt eben 1921. Aus der Sicht des Ich-Erzählers Nick Jenkins vermittelt der Roman ein „unvergleichliches Figurenpanorama“ im England der damaligen Zeit, in den höheren gesellschaftlichen Ebenen, beginnend im Internat. Vermutlich ist Eton gemeint, aber das wird nicht gesagt. Sehr britisch, „ein Gipfeltreffen der Ironie“ (FAZ 2017) und für Fans von Downton Abbey und Genießer:innen langsamen Erzählens eine wahre Wucht. Außerdem bietet „Ein Tanz zur Musik der Zeit“ den großen Vorteil, dass die Welt, die eröffnet wird, nicht nach 300 Seiten verschlossen wird, sondern wir den Figuren in den weiteren Bänden folgen können.