Ein besonderes Leseerlebnis, gerade in der Zeit der Rauhnächte, war für mich das neue Buch von Thomas Hettche. In dem Roman „Sinkende Sterne“ geht es vordergründig um Thomas Hettche, der ins Schweizer Wallis reist, um das Haus seiner Eltern aufzusuchen. Beide Eltern sind verstorben, sein Leben als Professor zunächst beendet, da er nicht bereit ist, den neuen Gepflogenheiten des Lehrbetriebes Genüge zu tun (safer spaces schaffen, gendergerechte Sprache pflegen, Literatur, die jemanden verletzen könnte, nicht mehr zu unterrichten, wozu auch die „Odyssee“ von Homer gehört) Dieser Anfang der Reise ist ausgesprochen aktuell und im Heute angesiedelt. Die Ankunft im Wallis verheißt eine Rückkehr in längst vergangene Zeiten: er kann nur mit der Einladung des Kastlans einreisen, der ihn gebeten hat, zu kommen, da das Wallis für Fremde gesperrt wurde. Den Anlass dazu lieferte eine Naturkatastrophe, durch die die Rhone gestaut wurde und einen riesenhaften See ausbildet hat, der wiederum zur Kappung der Talverbindung geführt hat und es notwendig macht, die alten Pässe zu nutzen, welche im Winter nicht passierbar sind. Das Tal schottet sich ab und die mittelalterlichen Gepflogenheiten werden wieder aktiv genutzt. Fremde sind nicht willkommen und so wird auch Thomas vom Kastlan dazu aufgefordert, sein Haus zu räumen, er werde zwangsenteignet, da er ein Fremder sei. Dass er seine Kindheit in weiten Teilen hier verbracht hat, spielt keine Rolle.
Die Verbindung zwischen dem Kündigungsgrund und der rückwärtsgewandten Haltung der Walliser ist offenkundig, hochinteressant ist die Art der Reflektion der Hauptfigur und die Vermischung der realen Welt mit der mythischen Natur. Sindbad, Odysseus, eine fast gruselige Bischöfin kommen vor, ein Sommer auf der Alp, und die Jugendliebe des Erzählers, vor allem deren Tochter, mit der Thomas viele Gespräche führt. Großartig schildert er die Bergwelt und die vergessenen Lebensformen der Bewohner – diesen kommt in „unserer von Identitätsfragen und Umweltzerstörung verunsicherten Welt eine neue Bedeutung zu“- so der Verlag. Hettche widmet sich Fragen des Schreibens, dem, was Erzählen leisten kann in so einer Welt – das alles in einer Prosa, die rhythmisch und musikalisch den richtigen Ton trifft. Der ganze Roman hat etwas Rauschhaftes, dem ich mich kaum entziehen konnte.
Ich lese in dem Buch, dass der Autor die (Schreib-) Kunst gegen die Vereinahmung durch eine hyperventilierende öffentliche Debatte verteidigt, in der ideologisch getönt die Literatur missbraucht wird.
Das ist zuweilen viel und fordert Konzentration und die Lust, sich damit auseinanderzusetzen.
Ich bin sehr angetan von dem Roman, insbesondere wegen der feinen Sprache, der Naturschilderungen und der Verknüpfung unserer Welt mit einer längst vergangenen, die scheinbar Orientierung schafft.
Thomas Hettche, Sinkende Sterne, Verlag Kiepenheuer und Witsch, 25 Euro