Ein Buch mit vielen Überraschungen ist „Die Anomalie“ von Hervé Le Tellier. Den Prix Goncourt hat der Autor dafür bekommen – wie schön, dass ein solches, fast experimentelles Buch mit diesem Preis ausgezeichnet wurde. Le Tellier ist Vertreter der OuLiPo-Bewegung, die sich dem experimentellen Schreiben unter strikter Umgehung bekannter Formen widmet. Das hält er in diesem Buch zum Glück nicht durch, denn es verspricht von Anfang an großes Lesevergnügen .
Zu Beginn des Romans werden verschiedene Menschen in ihren jeweiligen Lebenszusammenhängen eingeführt, lebendig und nachvollziehbar beschreibt Le Tellier ihre Charaktere. Blake, ein Serienmörder, der durch seine Sorgfalt und scharfe Intelligenz beeindruckt oder André, der alternde Stararchitekt, der ein bisschen anwidert in seinem eitlen Gehabe oder Victor Miesel, ein depressiver Autor und auch Lucie, die alleinerziehende Filmcutterin erscheinen in ihren Lebenszusammenhängen.
Im Weiteren kommt das eigentliche Thema in den Blick: ein Flugzeug gerät auf dem Weg von Paris nach New York im März des Jahres in ein Unwetter, kommt aber heil am Bestimmungsort an. Dasselbe Flugzeug mit denselben 243 Passagieren landet allerdings ein weiteres Mal im Juni des Jahres in New York. Das ist die Anomalie, um die es einerseits geht. Gleichzeitig erkennt man hier bereits die erste Skurrilität: Es gibt ja auch noch den Passagier und Autor Victor Miesel, der nach der Landung im März einen letzten Text verfasst, „Die Anomalie“, und sich dann das Leben nimmt. Im Juni landet er nun gesund in New York und findet sich als Bestsellerautor wieder, der er in der Zwischenzeit geworden ist. So ergeht es allen Passagieren: sie haben nun sich selbst ein zweites Mal und müssen zusehen, wie sie damit zurechtkommen.
Soweit, so klar. Das jedoch, was das Buch so besonders macht, sind die vielen Querverweise und Anleihen an die Literatur und an die Wissenschaften, von der Philosophie bis zur Metaphysik. Die Maschine, die in New York im Juni landet, wird von allen Diensten der USA umfangen und untersucht. Dazu gehören auch zwei Mathematiker, die Jahrzehnte zuvor das Protokoll 42 verfassten, in dem der Umgang mit einem Ereignis festgelegt wird, das nicht den anderen Protokollen entspricht, also nicht vorhersagbar ist. Die Akteure dieses Protokolls kommen zusammen, wissen aber nichts und debattieren mit bzw. in Anwesenheit des Präsidenten darüber, was genau passiert sein könnte. Die köstliche Beschreibung Trumps, wie er versucht, den Darlegungen der Wissenschaftler zu folgen, ist alleine schon die Lektüre dieses Buches wert.
Der Roman versammelt Elemente des Sci-Fi, des Krimis, der Satire, auch des psychologischen Romans und wird durch diesen Reichtum unterhaltsam, spannend und anrührend zugleich.
Übersetzung: Romy Ritte und Jürgen Ritte