Annie Ernaux zählt zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen Frankreichs und wurde auch in 2020 wieder für den Nobelpreis ins Gespräch gerbracht. Ihre Bücher sind ausschließlich biografisch begründet, ihr Leben, ihre Erinnerungen teilt sie mit ihren LeserInnnen. Dabei geht sie weniger chronologisch vor, als sich je einem Schwerpunktthema zu widmen. In „Der Platz“ ist das Thema ihr Vater, in „Die Jahre“ ihr eigenes Leben in Bezug auf die jeweilige Zeit und deren Ausprägungen.
„Die Scham“ nun beginnt mit einem erschütternden Ereignis, das Annie Ernaux im Alter von 12 Jahren in ihrem Zuhause erleben muss. Dieses Vorkommnis ist gleichbedeutend mit dem Ende der Kindheit, in der alles selbstverständlich erscheint. Die kindliche Zuversicht der kleinen Annie in das Gute und Richtige wird grundlegend erschüttert und bedeutet, dass auch alle anderen Lebensbestandteile angezweifelt werden.
Ernaux schildert Splitter der Kindheit und späteren Jugend Annies und widmet sich inbesondere der Bedeutung des christliche Glaubens bei ihr und ihrer Mutter. Die Eingebundenheit in die durch die Kirche vorgegebenen Rhythmen und die daraus resultierende Klarheit und Einfachheit des Lebens werden durch das Ereignis massiv erschüttert. Die soziale Einfachheit ihrer Herkunft und ihrer Eltern wird ihr durch eine Reise deutlich und bestärkt die durch das Ereignis ausgelöste Scham.
Die mosaikartig aneinandergefügten Erzählungen Ernauxs ergeben ein in sich schlüssiges Gesamtbild und lassen die LeserInnen mitfühlen und begreifen, warum das anfangs geschilderte Vorkommnis so weitreichende Folgen hatte und was genau die „Scham“ meint.
Wie „Die Jahre“, so beeindruckt mich auch „Die Scham“ durch die Kürze und Prägnanz des Erzählten, es wird vollkommen einsichtig und klar, worum es der Autorin geht und vieles berührt auch die eigenen Erfahrungen und Erlebnisse. Großartig.
Bibliothek Suhrkamp, 18 Euro