DAS autobiografische Buch des Herbstes ist für mich neben Julia Francks Buch „Weit auseinander“ das Buch von Schauspieler Edgar Selge.
In Kapiteln und Ausschnitten erzählt der 1948 geborene Selge aus seiner Kindheit, seinem Aufwachsen als Sohn des Gefängnisdirektors der Jugendstrafanstalt in Herford. Die Familie lebt auf dem Anstaltsgelände und lädt die Jugendlichen zu Hausmusikabenden in das eigene Wohnzimmer. Edgar als Zweitjüngster der Brüder hat zunächst eine beobachtende Stellung inne, im Laufe des Romans gerät er immer mehr in den Fokus seiner Eltern. Die Gewalt seines Vaters, die Traumata der Familie, der Tod seines Bruders, all diese Begegebenheiten werden zunächst nur angedeutet und im Laufe des Romans, mit zunehmendem Alter Selges, immer klarer herausgearbeitet. Diese Struktur ist packend und gleichzeitig emotional so aufwühlend, dass am Ende des Buches eine atemlose Person zurückbleibt und fassungslos noch einen Blick auf das Foto des Autors in der Klappe des Buchumschlags wirft.
Und doch: Selge stellt seine Eltern nicht bloß, er berichtet zwar hart, aber er stellt das Handeln der Eltern in den historischen Zusammenhang, wodurch natürlich eine Relativierung stattfindet. Am Ende des Romans bekommt seine Mutter Raum, nachdem sie die Wehrmachtsausstellung in München besucht hat: „Ich kann mein ganzes Leben wegwerfen, waren ihre ersten Worte. Nur Verbrecher um mich herum. Euer Vater. Mein Vater. Unsere Wehrmacht.(…).“
So erzählt Selge in aller Klarheit von dem, was er erleben musste und von dem, was untergründig wirkte unter der Fassade der musikalischen, belesenen, bildungsbürgerlichen Familie.
Edgar Selge, Hast Du uns endlich gefunden, Rowohlt, 24 Euro