Nach all den „heutigen“ Büchern war es Zeit, mal wieder einen Klassiker zu lesen. Dacia Marainis bereits im Jahr 1990 erstmals in Italien erschienene opulente Familiengeschichte „Die stumme Herzogin“ ist gerade wiedererschienen, die Übersetzung aus dem Italienischen von Ingrid Ickler wurde neu durchgesehen und mit Sabina Kienlechner aktualisiert. Beginnend am Ende des 17. Jahrhunderts, wird die Geschichte der stummen Herzogin bis etwa Mitte des 18. Jahrhunderts erzählt. In dieser Zeit liegt der Umbruch von der mittelalterlichen Gesellschaft zur aufgeklärten Gesellschaft, die den Verstand, das planvolle Handeln zur Maßgabe des modernen Menschen erklärte. „Sapere aude – habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen“, lautete der Wahlspruch der Aufklärung. Der Weg dahin spiegelt sich im Leben der Protagonisten dieses Buches. Taubstumm, wie sie ist, lehrt der Vater Marianna das Lesen und Schreiben, wodurch sie in die Lage versetzt wird, mit ihrer Umgebung zu kommunizieren. Außerdem nutzt sie diese Fähigkeit, Zeit ihres Lebens extrem viel zu lesen. Sie wird zu einer gebildeten Frau, hoch angesehen und bewundert. Die Literatur gewährt ihr Einblicke in die sich ändernde Welt, sie vertritt Ideen, die ihre Familie noch nicht gutheißen kann, sondern im Gegenteil als Bedrohung der natürlichen Ordnung erlebt. Mit 13 wird sie mit einem 30 Jahre älteren Mann, ihrem Onkel, verheiratet und bekommt vier Kinder mit ihm. Erst als Witwe erfährt sie den schockierenden Grund für ihre Taubstummheit und erlebt noch eine wahre Liebe, die sich um Standesgrenzen nicht schert.
Das Wunderbare an diesem Buch ist die Schilderung einer Welt, die vollkommen verschwunden ist. In jeder Figur scheint die Verbundenheit mit der damaligen Zeit auf, die noch viel weiter weg von unserer Welt ist als Romane, die am Ende des 18. oder im 19. Jahrhundert spielen. Die Vorstellung, dass Enscheidungen nicht nach rationalen Erwägungen zustande kommen, sondern nach Standeserwägungen oder aus Gottgläubigkeit, ist für uns heutige Menschen nicht leicht nachzuvollziehen. Sehr berührend sind die Szenen, in denen die Herzogin sich ihren Kindern zuwendet, oder wenn sie so ganz im Lesen aufgeht oder sich den Anordnungen ihres Sohnes widersetzt. Dieser meint, die Witwe könne für sich keine Entscheidungen treffen, ist aber andererseits zu schwach, um seine rückwärtsgewandte Haltung durchzusetzen. Die Herzogin strahlt eine ungeheure Kraft aus – dazu kommt ihre Fähigkeit, die Gedanken der Mitmenschen zu lesen, was äußerst spannend ist für den Gang des Romans.
Das Buch ist eine große Lesefreude und lenkt, und das tut vielleicht auch mal ganz gut, von der gegenwärtigen Corona- Krise einerseits ab, andererseits schärft es das Bewusstsein dafür, dass die Sicherheit, in der wir uns bislang, vor allem in der westlichen Welt, wähnten, noch gar nicht lange besteht und eben doch auch eine fragile ist.
Folio Verlag, 24 Euro