Schon lange hat mich ein Buch nicht mehr so lange begleitet, nachdem ich es beendet habe. Thomas von Steinaecker erzählt die Geschichte von Bastian, der zu Beginn des Romans irgendwo in Nordnorwegen in einer Hütte lebt. Es droht erstmals seit langem wieder ein echter Winter, womit klar ist, dass wir uns nicht im Jahr 2023 befinden. Bastian lebt dort seit etwa fünf Jahren und wir haben das Jahr 2039. Der Wintereinbruch stellt Bastian vor eine große Herausforderung, der er sich unter anderem dadurch stellt, dass er anfängt, seine Lebensgeschichte aufzuschreiben. Er ist im Jahr 1982 geboren, seine Eltern sterben früh und er wächst in einer kleinen Stadt bei seinem kulturbeflissenen Großvater auf, einem hochgebildeten Professor. Diese Beziehung ist einerseits sicher und gut, andererseits kann der Großvater ihm die menschliche Nähe, derer er bedarf, nicht geben. Bastian befreundet sich mit dem aus Rumänien stammenden Illie an, in dessen Familie die Nähe und Zuwendung herrscht, die Bastian vermisst. Dann kommt noch Madita dazu, die mit ihrer Mutter in das Nachbarhaus Bastians einzieht und als viel zu öko gilt. Die drei Außenseiter werden eine Einheit, die bis ans Ende des Romans in Freundschaft durch Höhen und Tiefen verbunden bleiben.
Ein weiterer wesentlicher Teil, um den es geht, ist die Frage danach, wie stark ein Mensch das Außen ausblenden kann, wie sehr die Suche nach dem individuellen Glück den Blick verstellt für das, was in der Gesellschaft passiert. Und darüber hinaus stellt sich durch die häufige Wiederkehr des Wortes „Vision“ die Frage, wie der Mensch seine besten Seiten leben könnte.
Die wilde und freie Jugend in den 1980ern und 90er, die Popkultur dieser Zeit weicht allmählich etwas Anderem. Ganz sukzessive verändert sich die Welt um Bastian und seine kleine Familie. Der Autor weist nicht mit dem Holzhammer auf die gesellschaftlichen und klimatischen Veränderungen, sondern erwähnt sie, wenn sie für das Leben des Protagonisten eine Rolle spielen. Da dieser ja das schreibende Ich ist, ist das auch logisch, denn Bastian selbst ist es ja, der ausblendet, was er nicht sehen möchte. Aus einem zunächst noch offenen und interessierten Menschen wird im Laufe der Jahre ein recht enger Mensch, dem es darum geht, sein Leben so zu erhalten und zu gestalten, wie er es braucht, ohne im Innersten zu erkennen, dass das nicht mehr funktioniert in der Zeit, in der er lebt. Er reflektiert und ahnt, aber kann kaum sich selbst als Individuum in die Verantwortung nehmen, sondern nutzt hier dann „Wir“ – was wohl eine ganze Generation meint, seine.
„Ich kann mich an den Moment erinnern, 2016 oder 2017, als ich plötzlich das Gefühl hatte, die Realität sei irreal geworden. Als hätte die Zeit irgendwann nach 2001 auf dem Pfad mit seinen vielen Möglichkeiten eine falsche Abzweigung genommen und als befänden wir uns nun aufgrund dieses Versehens oder Unfalls oder was auch immer in einer falschen Version der Welt. Wir redeten uns wieder und wieder ein, wie gut es uns ging. Wir spendeten per automatischem Dauerauftrag 50 Euro Jahresbeitrag an Amnesty International.“
Virtual Reality wird der Zweig, in dem Bastian als Mediengestalter arbeitet, mittels der VR-Brille flüchtet er vor dem Niedergang Deutschlands und der Welt und verliert sich am Ende fast darin.
Sein Sohn Samy ist derjenige, der die gesellschaftlichen Notwendigkeiten erkennt und zum Entsetzen der Eltern entsprechend lebt.
Gerade diese kleinen Schritte, in denen sich das, was im Jahre 2023 zu sehen ist, weiter entwickelt, macht den unterschwelligen Schrecken dieses Romans aus. So könnte es mal werden? Realistisch- ja, aber wollen will das wohl niemand.
Ein gut geschriebener, hochspannender Roman, der durchaus Herausforderungen stellt an diejenigen Leserinnen und Leser, die sich darauf einlassen.
Thomas von Steinaecker, Die Privilegierten, Fischer Verlag, 26 Euro