Dieses Buch hätte nicht auf meiner Liste gestanden, wäre es nicht das Lieblingsbuch eines Postkartenvertreters, der mich alle Monate bei Prosa besucht. Dieser sehr geschätzte Christoph liest mindestens so viele Bücher wie ich – aber ganz andere. So ist jeder Besuch von Christoph eine kleine Buchvorstellungsstunde, aus der ich eine Vielzahl an Anregungen mitnehme und er umgekehrt natürlich auch.
Also: sein Favourite in diesem Herbst ist Ocean Vuong.
In Amerika wird Vuongs Roman als aktueller Beitrag zur Identitäts- und Migrationsdebatte gefeiert – das hat der Autor, 1988 geboren, bereits vorausgesehen. Und natürlich: Vuong berichtet, in den Rahmen eines Briefes an die eigene Mutter verpackt, über sich. Er ist Amerikaner, als Vietnamese geboren, er ist ein schwuler Mann, er ist ein Sohn und Enkel, er ist ein Verlassener und auch ein Schriftsteller. Seine Mutter ist Analphabetin, die ihn durch die Arbeit in einem Nagelstudio durchbringt, dessen Ausdünstungen ihr die Gesundheit rauben. Als er ihr gesteht, dass er schwul ist, muss sie sich auf der Toilette übergeben: „Du bist doch schon vietnamesisch“. In seinem Brief offenbart der Sohn sich der Mutter, die noch geprägt ist vom Vietnamkrieg und davon, möglichst nicht aufzufallen in dem Land, das sie aufgenommen hat und gleichzeitig die Verwüstungen des Krieges im Heimatland angerichtet hat. Vuong schildert Kindheitserlebnisse, Arbeiten auf Plantagen, die Wanderungen der Monarchfalter, er erzählt von seiner Großmutter und ihren Gleichnissen und von seiner ersten großen Liebe, die er an den Tod verloren hat. Und er weist mit diesem Brief auf die Einsamkeit desjenigen, der eben diese vielen Identitäten hat und keine eindeutig benennbare und gelebte, noch bestehende „Herkunft“, die den Menschen einbettet. Das alles ist so tragisch und gleichzeitg sprachlich so interessant und schön, dass es dieses Buch zu etwas sehr Besonderem macht.
Sprachlich ist dieser Roman nämlich wirklich grandios: die Fragmentierung und Zersplitterung seiner Prosa gibt die angemessene stilistische wie formale Antwort auf die Frage nach der Eindeutigkeit der Herkunft, die Vuong sich selbst und auch seiner Mutter mit diesem Roman erschreiben will, findet David Hugendick, der eine komplexe und angemessene Rezension auf Zeit.de veröffentlicht hat. https://www.zeit.de/2019/30/auf-erden-sind-wir-kurz-grandios-ocean-vuong
Vuongs Text ist anstregend und anspruchsvoll, gewalttätig und schillernd und so schön, dass ich glücklich bin, durch Christoph auf diesen Roman gebracht worden zu sein.
Ocean Vuong, Auf Erden sind wir kurz grandios, Hanser Verlag, 22 Euro