Ja, es gibt schon etliche Romane, die sich mit der besonderen hanseatischen Gesellschaft Lübecks beschäftigen, auch sehr berühmte.
Inger-Maria Mahlke jedoch erzählt in ihrem Roman „Unsereins“ von viel mehr verschiedenen Menschen und Situationen, Verhaltensweisen und Begebenheiten, die sich um die Wende zum 20. Jhdt. in Lübeck finden, als zu erwarten ist nach den ersten Sätzen. Ihr Stil ist in Mann´scher Manier ausschweifend beschreibend, Kleinigkeiten befindet sie der Erwähnung wert und tatsächlich: sie sind wichtig, um sich als Lesende ganz allmählich in die Atmosphäre dieser Zeit hineinatmen zu können. Ihre genauen Beobachtungen und Beschreibungen stehen nicht als l´art pour l´art im Roman, sie sind wesentlich wichtig damit die Lesenden in die damalige Zeit eintauchen können.
Von 1890 bis 1906 geht die Erzählzeit, als allwissende Erzählerin findet Inger-Maria Mahlke einige wenige Male Gelegenheit für, auch humvorvolle, Blicke aus unserem Jetzt auf diese Zeit. Das beginnt mit einem erdachten Drohnenflug auf den „kleinsten Staat“, der hineinzieht in diese längst vergangene Gesellschaft, in eine unbeschädigte Stadt, die an vielen Stellen noch im Mittelalter verhaftet scheint. Lübeck wird nie so benannt, es ist immer vom „kleinsten Staat im Kaiserreich“ die Rede, in der Vorrede, sehr witzig, steht noch als Zusatz, das eigentlich Bremen noch weniger Fläche habe und auch ein „obskures“ Fürstentum Köstritz weniger Einwohner. „Jedoch: zweitkleinster klingt mickrig“ Damit ist schon viel gesagt.
Der Roman begleitet die wohlhabende jüdische Familie Lindhorst, acht Kinder gehören zum Haushalt in der Königstraße, die Familie des Wasserbaudirektors Schilling und deren Kinder und vor allem viele Menschen, die nicht zu den oberen Hanseaten gehören, sondern diesen zu Diensten sein müssen. Auch Freunde der jeweiligen Kinder als nachwachsende Generation mit neuen Ideen und Vorlieben bekommen Platz in diesem Roman.
Die Rolle der Frauen erscheint mir besonders präsent: Marie Lindhorst, die Mutter der acht Kinder, die in die Verrücktheit flüchtet und mehrfach in Sanatorien untergebracht wird, Ida, das Dienstmädchen, das nicht „in Diensten“ sterben möchte, Henriette, die als mitgebrachtes Kind nicht so behandelt wird wie die anderen Kinder der Familie Schilling. Sie alle kämpfen mit der starren, Konventionen verhafteten Rolle, die ihnen zugewiesen wurde. Die gegenseitigen Besuchsankündigungen oder eben die ausgebliebenen, die notwendigen Bankette, um zu zeigen,wie wichtig der Haushalt ist, all die kleinen Signale, die in die eine oder die andere Richtung deuten, erzählen vom gesellschaftlichen Zwang, dem es sich zu beugen gilt, will man weiter mitspielen und dem Mann keine Schande machen. In Dialogen und Gedanken erfasst Inger-Maria Mahlke die Nöte, Ängste und Enge der Frauen, jedoch ohne deren Erleben mehr Raum zu geben als dem der Männer in diesem Roman. Auch diese sind eingeklemmt, verklemmt, müssen sämtliche Gefühlsregungen unterdrücken und leiden daran, jeder auf seine Weise – aber sie haben sehr viel mehr Macht als die Frauen, was sie auch nutzen. Inger-Maria Mahlke gibt den Auswirkungen der damaligen gesellschaftlichen Ordnung Platz, ohne alles stets auszuformulieren, ohne zu psychologisieren und ohne zu bewerten. Im Gegenteil – die Lesenden müssen selbst spüren, was da eigentlich zwischen den Zeilen steht. Allein durch das beschreibende Erzählen des Lebens erzeugt sie Bewusstsein und auch Verständnis für das Handeln der Einzelnen. Das gelingt ihr beeindruckend und je weiter der Roman fortschreitet, desto tiefer sinkt die Lesende in die Zeit, in die Personen ein.
Die Buddenbrooks kommen natürlich auch im Roman vor: Thomas, der von allen als Schüler nur „der Pfau“ genannt wurde, kommt mit dem Roman zurück nach Lübeck und das Spiel „Wer ist wer“ kommt groß in Mode. Rechtsanwalt Lindhorst hat dagegen andere Sorgen: Auf seiner Schreibtischauflage liegt nämlich eine „Deutschnationale Monatsschrift“ , die ihn an längst vergessene Schmähungen erinnert. Heinrich, „der ältere der Mann´schen Söhne“, zeichnet als „Schriftleiter“ verantwortlich. Thomas hat in dem Blatt, in dem Beiträge über das „Allgermanenthum und Das neue antisemitische ABC“ erscheinen, auch einen Artikel veröffentlicht. „Nicht das ganz schlimme Zeug“, aber Vater Lindhorst muss seinem Sohn nun erklären, dass die Familie selbst seit Generationen immer wieder mit antijüdischen Ressentiments zu kämpfen hat.
Die Genauigkeit, mit der Mahlke sich den Gepflogenheiten auch im Senat, Debatten über die Einführung von Wasserklosett seien als Beispiel genannt, den aufkommenden Volkshochschulen und vielen weiteren Details widmet, tragen zu dem differenzierten und weiten Blick auf diese Zeit bei.
Ich bin ein ganzes Wochenende in diesem Buch verschwunden und halte es für einen wirklich großartigen Roman, der noch sehr viel mehr zu sagen hat, als ich im ersten Lesen erfassen konnte. Vermutlich ist es sinnvoll, das Buch ein zweites Mal, und dann langsamer, zu genießen.
Und: natürlich ist dieser Roman ein „Muss“ für alle LübeckerInnen und Fans der Stadt.
Inger-Maria Mahlke, „Unsereins“, Rowohlt Verlag, 26 Euro