Ein packender Familienroman, der auf mehreren Zeitebenen angesiedelt ist:
Geertje, aus der jüdischen Familie Rosenbaum stammend, beginnt Mitte der 1990er Jahre ein Studium in Nimwegen. Lange schon spürt sie, dass sie sich selbst noch nicht richtig kennt und eigentlich auch nicht weiß, wo genau sie eigentlich hin gehört.
Wien in den Jahren zwischen 1914 und 1945: die jüdische Familie Rosenbaum lebt ein bürgerliches Leben mit klaren Regeln das familiäre Zusammenleben betreffend, musikalisch und kulturell gebildet. Viktor, der jüngere Sohn, trifft mit ungefähr acht Jahren einen kleinen Jungen, der durch andere Jungs bedrängt wird. Er nimmt ihn mit nachhause, wo Bubi, wie der Kleine, aus ärmlichsten Verhältnissen stammend, heißt, gepäppelt wird und fortan als Pflegekind bei der Familie bleibt. Diese Szene ist eine von vielen in diesem Roman, die dicht und ergreifend in die Welt der Rosenbaums führen. Großzügig und den Menschen zugewandt leben, dafür entscheidet sich auch Viktor und macht genau das, was er will, scheinbar zügellos und ohne Ziel. Sein Vater Anton ist nie zufrieden mit ihm und leidet an der sehr eigenen Art seines Sohnes. In seiner Not schickt er ihn in die Berggasse zu einem der neuen Ärzte, die sich der Seele annehmen. Viktor, die Hauptfigur des Romans, ist wohl ein Frauenverführer und vielleicht auch ein scheinbar windiger Unternehmer, aber er hat das Herz am rechten Fleck, denn alles, was er anfasst, ist zugunsten Anderer.
Die Kapitel, in denen es um Geertje in den 1990er Jahren geht, wechseln sich ab mit der Schilderung der Familiengeschichte in Wien bis in die Zeit der Besatzung durch die Nazis. Diese Romanabschnitte berührten mich sehr, die Autorin schildert das Leid der jüdischen Bevölkerung, die Grausamkeit der Nazischergen, dicht und packend. Viktors Eltern machen sich noch lange vor, dass es alles nicht so schlimm werden wird und werden doch eines Besseren belehrt. Sie leben das Judentum nicht und fühlen sich, wie so viele, als Österreicher, die als Staatsbürger ihren Pflichten nachgekommen sind und sich nichts haben zuschulden kommen lassen. Noch lange nach dem Einmarsch vertraut Anton, ein Anwalt, auf die „Rechtssicherheit“, die der Staat seinen Bürgern garantiert. Viktor ahnt schnell, dass es schlimm kommen wird.
Geertje ihrerseits spürt nach und nach, dass die abwiegelnden, schematischen Sätze zum Verbleib der fehlenden Familienmitglieder („Viktor? Der lebt nicht mehr“) etwas verdecken, das für sie als Person und Nachfahrin wichtig sein könnte. Sie macht sich auf die Suche.
Judith Fanto vermittelt in diesem Debütroman auf vielen Wegen ein Gefühl für „Familie“, die über den einzelnen Mitgliedern steht und nach ihr eigenen Regeln funktioniert. Die Familienregeln, aber auch das Schweigen, vor allem das Schweigen des einzelnen Menschen über erlittenes Unrecht und dessen Auswirkungen werden deutlich. Außerdem schreibt sie so packend, dass das Buch auch noch große Unterhaltung ist, mit Witz und Struktur. Einzig das Ende ist etwas filmisch-plakativ geraten, aber das stört den Gesamteindruck nicht.
Sehr empfehlenswertes Buch für Menschen, die sich einhüllen lassen wollen von einer sehr gut erzählten Geschichte, die auch noch auf wahren Tatsachen beruht (Fantos Familiengeschichte) und offensichtlich sehr gut recherchiert ist.
Judith Fanto, Viktor, Urachhaus Verlag , Übertragung aus dem Niederländischen: Eva Schweikart