Familiengeschichte – Familie?

Ja, dieser Roman ist eine Familiengeschichte, aber die Stimmen der sechs Mitglieder sind so unterschiedlich in dem, was sie wahrnehmen und wie sie sich fühlen innerhalb ihrer Verwandtschaft, dass sich die Frage stellt: will jemand so eine Familie? Die Antwort ist vielschichtig und natürlich stellt sich diese Frage auch nur theoretisch.
Der Roman „Dschinns“ schildert das Leben der Familie Yilmaz, die in den 1960ern aus der Türkei, genauer einem kleinen Dorf in Kurdistan in den fiktiven Ort Rheinstadt zieht. Zunächst kommt nur Hüseyin, nach Jahren auch seine Frau Emine mit Sohn Hakan und Tochter Perihan, ganz am Ende, erst mit 13 Jahren darf auch die erstgeborene Sevda umziehen.
Liebevoll durch den Blickwinkel jeweils nur einer Person erzählt, entwickelt sich die Geschichte in langsamen Schritten, immer mehr Details werden offenbar. So zeigt sich zum Beispiel die kurdische Herkunft spät, auch dass Sevda keine Schule besuchen durfte, wird erst in der Mitte des Romans deutlich. Der jüngste Sohn Ümit wird in Deutschland geboren und er, wie auch seine Geschwister, changieren zwischen den strengen Regeln des kurdisch geprägten Elternhauses (obwohl genau diese kurdische Herkunft verleugnet wird) und den Freiheiten, die sie sich verbotenerweise irgendwie erschleichen. Das Zerrissene zwischen der Herkunft und dem Leben in Deutschland mit den Rhythmen und Freiheiten, die hier möglich sind, wird beeindruckend nachfühlbar in diesem Roman. Niemand redet wirklich miteinander, alles bleibt unter dem Mantel des „das-gehört-sich-so“ versteckt und am Ende wird auch noch ein Geheimnis gelüftet, mit dem nicht zu rechnen war. Beeindruckt hat mich die sprachliche Vielfalt Aydemirs, die es ermöglicht, jedes Familienmitglied in seinem Charakter nachfühlen und die jeweiligen Handlungen verstehen zu können. Die eigenen „Vorurteile“, die gegenüber den sogenannten „Gastarbeiter“-Familien bestehen, werden zwar in Teilen bestätigt, aber vor allem verstehbar und einsichtig durch den Zusammenhang mit den im Roman geschilderten Personen. Dieses Deutschland, das so hilflos mit Menschen umgeht, die „fremd“ sind, ist genau so vorhanden, wie es dort geschildert wird – wie dieses Verhalten auf der Seite der Adressaten ankommt, wird in „Dschinns“ ohne Anklage sehr deutlich. Dschinns sind übrigens Geister….
Das Buch ist ausgesprochen spannend und eröffnet einen Blick in eine, vergangene (es endet 1999), Welt, über die manche sicher nur vom Hörensagen etwas wissen. Dieser Blick ist vielfältig und umfassend und als Leserin gehe ich weit wissender aus diesem Buch heraus, als ich hineingegangen bin.
Große Lesempfehlung.

Fatma Aydemir, Dschinns, Hanser Verlag, 24 Euro