Gebannt habe ich das neue Buch der US- amerikanischen Künstlerin und Autorin Miranda July verschlungen. „Auf allen Vieren“ erzählt von einer 45-jährigen Künstlerin, die eine Reise quer durch die Staaten nach New York antritt. Doch sie bleibt bereits nach wenigen Meilen in einem Motel stecken, weil sie an einer Tankstelle Davey kennenlernt, der ihre ganze Aufmerksamkeit erringt. Statt also nach New York unterwegs zu sein, gestaltet sie das Motelzimmer mithilfe der Frau des Tankstellenmannes, der in Wahrheit in einer Autovermietung tätig ist, zu einem stylischen Raum um, in dem sie sich zwei Wochen einmietet. Unter dem Bett in diesem Zimmer 321 findet sie ein abstraktes Bild, auf dem sie meint, eine Frau im Herbst ihres Lebens zu erkennen, die vor einem verschlossenen Höhleneingang steht. Für die Ich-Erzählerin ist klar, dass es sich hier um eine Frau handelt, die es versäumt hat, ihre sexuellen Tore offen zu halten. Sie versteht es als Mahnung an alle Frauen, sich diesem zu widersetzen. Es ist eine Schlüsselszene im Buch – es geht um die Frau in der Mitte des Lebens, die ihre eigene Libido verteidigen muss, gegen hormonelle Veränderungen und Erwartungen der Gesellschaft an die Schicklichkeit.
„Wir stürzen jeden Moment von einer Klippe. In ein paar Jahren sind wir völlig andere Menschen“.
Sie beginnt eine Affäre mit dem zehn Jahren jüngeren Davey.
So weit, so vorhersehbar. Die Affäre ist dann aber nicht so wie gedacht, denn der junge Mann will seiner Frau nicht wirklich untreu werden. Was sexuell alles möglich ist zu zweit, ohne „den letzten Schritt“ zu tun, das beschreibt July explizit. Die Volten, die sie schlägt, die Gedanken, die die Hauptfigur in Bezug auf ihre Ehe, die daraus erwachsenden Verpflichtungen, in Bezug auf ihre Mutterrolle gegenüber Sam, 7 Jahre, nonbinär, erlebt, sind es, die das Buch so spannend machen. Die überbordende, bildhafte Fantasie ist es, die der Ich-Erzählerin vieles möglich macht, die sie aber auch hindert, sich selbst zu sortieren, gar manchmal zu Panikattacken führt. Das ist großes Lesevergnügen.
Was passiert mit einer Frau in der Mitte des Lebens, welche Veränderungen zeigen sich durch hormonelle Veränderungen und wie damit umgehen? Unsere Heldin erlebt einen ungeahnten Libidozuwachs, der ganze Roman dreht sich um Sex und wie er gelebt werden kann. Sehr explizite Beschreibungen auch von Begegngungen mit Frauen sind zu lesen, sie stehen für sich, sind aber gleichzeitig Ausdruck einer wiedererwachten Selbstbestimmung und eines Aufbruchs in eine andere Zeit im Leben dieser Frau. Das ganze Personal ist Ausdruck einer neuen Zeit – wir begegnen Transfrauen und Transmännern, Nonbinären und allen Formen sexueller Orientierung. Auch die Möglichkeiten von verbindlichen Beziehungen werden ausgelotet und stehen als wunderbare und wünschenswerte Lebensformen den üblichen Scheidungs-und Trennungsarien gegenüber.
Neben den sexuellen Begegnungen gibt July aber auch der Freundschaft breiten Raum. Vor allem die enge Beziehung zwischen der Ich-Erzählerin und ihrer Freundin Jordi ist sehr berührend geschildert. Die Beiden verbindet ein selbstverständliches Miteinander, das hilfreich und doch ehrlich ist. Auch das Verhältnis zu Harris, dem Ehemann, das anfangs im Mittelpunkt steht, ist pointiert beschrieben und nachvollziehbar als Ausgangsbasis für den weiteren Gang der Handlung.
„Auf allen Vieren“ ist ein wirklich gelungenes Buch über Wechseljahre, ehrlich und schonungslos, dazu humorvoll und auf angenehme Weise auch ein bisschen überdreht. Trotzdem mit vielen Sätzen, über die ich eine Weile nachgedacht habe. Großes Lesevergnügen.
Miranda July „Auf allen Vieren“, Übertragung aus dem amerikanischen Englisch von Stefanie Jacobs, Kiepenheuer und Witsch Verlag, 25 Euro