Ein Klotz zum Eintauchen: der neue Roman von John Irving „Der letzte Sessellift“

Über 1000 Seiten sind wirklich eine Hausnummer und nach 400 Seiten erlebte ich eine kleine Schlappe – aber, ich habe weiter gelesen und wurde sehr belohnt. Die angefangenen Fäden webt Irving vollständig zusammen und das erzählerische Tempo nimmt noch einmal richtig zu. Die vielen Figuren und Themen gelangen auf geheimnisvolle Weise zu einer Rundung, wirklich schön zu lesen.
Aber worum geht es denn nun eigentlich? Hauptfigur ist Adam, Drehbuchschreiber und Autor, wohl das Alter Ego Irvings, würde ich sagen. Adam hat eine sehr junge Mutter, Little Ray genannt, deren Lebensinhalt das Skilaufen ist und die in Adams Kindheit die Hälfte des Jahres getrennt von ihm in den Bergen Vermonts verbringt. Seine Großmutter und seine beiden grässlichen Tanten sind die Bezugspersonen Adams, sein Großvater ist bald schon der Demenz anheimgefallen, spielt aber nach seinem Tod noch als Gespenst eine wichtige Rolle. Überhaupt die Gespenster: Adam sieht die Verstorbenen und räumt ihnen eine Rolle in seinem Werden und Leben ein, ganz unesoterisch. Seinen Vater kennt Adam nicht, die Suche nach ihm hat über weite Strecken des Romans eine hohe Wichtigkeit
Das weitere Personal, das sich im Laufe von Adams Leben um ihn schart, gewährt Aufgehobenheit und Wärme in den politischen Zeiten, denen das Buch soviel Aufmerksamkeit schenkt, dass der Roman gleichzeitig ein Zeitpanorama wird. Die heutigen gesellschaftlichen Verwerfungen werden sozusagen schon angedeutet und vorausgesehen, das hat sehr viel Spannung. Irvings Hauptthemen finden sich alle in dem Buch wieder: Ringen, Schreiben, Sex, ungewöhnliche Familienkonstellationen, Homosexualität, Transgender- letzteres wird wunderbar an der kleinen Mr. Barlow (ja, Mr – das bleibt stets erhalten) entlang erzählt und auch hier mit soviel Selbstverständlichkeit und Wärme, dass es rührend ist.
Die stete familiäre Verbundenheit, das Füreinander-Einstehen und sich Unterstützen sind für mich ein herausragendes Element des Romans, das sehr gut tut.
Ich empfehle das Buch allen Irving-Fans, und allen, die bald Urlaub und jedenfalls genug Zeit haben und Lust verspüren, sich einmal so richtig in ein Buch einzulesen und darin zu versinken.
John Irving, Der letzte Sessellift, Ü Anna-Nina Kroll, Peter Torberg, Diogenes Verlag, 36 Euro