Frisch erschienen ist der neue Roman der in Lübeck geborenen Autorin Svealena Kutschke. Sie ist bekannt geworden durch den Lübeck-Roman „Stadt aus Rauch“, aus dem sie bei uns auch gelesen hat.
Ich bin begeistert von diesem Buch, das trotz der Schwere des Themas eine Art von Trost vermittelt – allein durch die präzise, feingeschwungene und dabei unprätentiöse Sprache. Wirklich großartig.
„Wirklichkeit ist nur eine Vereinbarung. Dieser Satz lässt Laura Schmidt viele Jahre nicht los. Es ist das Motto ihrer Mitpatientin Noll, die Laura in den 1990ern in der Lübecker Jannsen-Klinik kennenlernte. Dort hat sich Noll in der psychiatrischen Abteilung mit ihrer Vertrauten Olga Rehfeld lesend, schreibend, zitierend ein Refugium aus Geschichten geschaffen, einen Raum aus Literatur – zum Trost oder als Flucht vor den Abgründen der Vergangenheit? Laura begreift allmählich, dass die Klinik, in der sie selbst Hilfe gefunden hat, für Rehfeld zerstörerisch war.
Svealena Kutschke erzählt mit einem faszinierenden Figurenensemble aus Patient:innen und medizinischem Personal von der Psychiatrie als Ort, an dem tiefe Verwundbarkeit das Menschsein an seine Grenzen führt. Als Ort, der insbesondere während der NS- und Nachkriegszeit zum Einfallstor für Gewalt geworden ist. Als Echokammer deutscher Geschichte. Medizinische Diagnosen, führt Kutschke uns vor Augen, sagen viel über die Gesellschaft aus, in der sie gestellt werden. Und sie fragt danach, ob nicht der psychische Ausnahmezustand eine angemessene Reaktion auf die Zumutungen der Gesellschaft ist. Ein Roman, der wie ein Gespensterfisch in der Tiefsee Licht in die Dunkelheit bringt.“
Ausgehend vom Schicksal der fast lebenslangen Psychiatrie-Patientin Rehfeld ergründet Laura die Klinik und ihr Personal. Sie selbst war ebenfalls kurzzeitig Patientin der Klinik, lernte dort Rehfeld und ihre kongeniale Partnerin Noll kennen und erfasste Zusammenhänge, die es gilt zu erforschen. Laura und dann immer mehr Menschen, die mit der Klinik zu tun haben, bekommen eine Stimme in einzelnen Kapiteln, die jeweils in einer Dekade „Neunziger Jahre“, „Nuller Jahre“ angesiedelt sind.. Diese großen zeitlichen Zusammenhänge herzustellen ist nur ein grandioser „Kniff“, der diesen Roman so besonders sein lässt. Dazu kommen beispielsweise die Schilderung der Literaturbezogenheit Rehfelds und Nolls oder die künstlerische Verarbeitung des Erlebten und Erkundeten bei Laura, vor allem aber die vielfältige und bildreiche Sprache Kutschkes.
Ich lege Ihnen dieses Buch ausdrücklich sehr ans Herz, selten bin ich so gepackt worden durch ein Buch.
Svealena Kutschke „Gespensterfische“, Schöffling Verlag, 24 Euro