Der Roman erzählt die Geschichte zweier Schriftstellerinnen, die seit dem College in einer Art Freundschaft verbunden sind. Da fängt die Undurchschaubarkeit bereits an: was ist das für eine Freundschaft? June selbst hat ihre Beziehung zur chinesisch-amerikanischen Athena nie als besonders eng begriffen, allerdings bleibt, auch ihr, unklar, wie eng sich Athena umgekehrt an sie gebunden fühlte. Jedenfalls ist Athena mit Beginn des Romans die gefeierte Autorin, die überhäuft wird mit Lob und Anerkennung sowie Vorschüssen für das jeweils nächste Buch, die ihr ein reiches Leben ermöglichen. Junes Debütroman hingegen floppte mehr oder weniger und sie leidet an Ideenlosigkeit, wird sanft von ihrem Agenten unter Druck gesetzt und neidet Athena ihren Erfolg. Bei einem feucht-fröhlichen Abend in Athenas Appartement passieren zwei unvorstellbare Ereignisse: Athena erstickt an einem Pancake und June muss es mitansehen. Trotz des Schocks lässt sie ein fertiges Manuskript aus der Wohnung mitgehen, das sie zuvor auf Athenas Schreibtisch gesehen hat.
Dieser Plot ist an sich nicht so ungewöhnlich, es gab schon Romane, die die Aneignung von Stoffen durch andere Autoren behandelten.
In diesem Roman ist die Lage verzwickter, weil June „weiß“ ist und damit per se in der privilegierten Lage gegenüber einer asiatischen Amerikanerin. Der Roman verhandelt Fragen von race, weißer Dominanz, kultureller Aneignung und Fragen wie jene, ob es einer „weißen“ Frau eigentlich erlaubt ist, einen Roman über das Schicksal eines chinesischen Heers zu schreiben. Denn das macht June aus dem Stoff Athenas, den sie sorgfältigst überarbeitet, glättet, für den Markt der Leser:innen geschmeidig macht. Und das Buch „Die letzte Front“ wird ein riesenhafter Erfolg, der June in die Liga Athenas katapultiert. Alles wäre gut, wenn nicht in den sozialen Medien ein Shitstorm losbräche, der durch einen Post ausgelöst wird, in welchem June beschuldigt wird, den Stoff von Athena gestohlen zu haben.
June steigert sich immer mehr in den Wahn, Athena könnte noch leben und Junes Story vom Finden des Stoffes als gelogen entlarven.
Der Roman bleibt bis zum Schluß spannend und er entblößt die ganze Verdrehtheit eines Literaturmarktes, dem es um Umsätze geht, der sich an das anbiedert, was „die Leute“ scheinbar wollen, eine Wokeness vortäuschend, die in Wahrheit weiterhin diskriminiert und keineswegs unabhängig vom Ansehen der Autorinnen oder Autoren die literarische Qualität von Texten in den Vordergrund stellt. Außerdem erschüttert die Darstellung der Rolle der sozialen Medien, die Macht, die sie haben, wenn es um das Wohl und Wehe von Menschen geht. All diese Zusammenhänge schildert Kuang am Beispiel Junes so intensiv, dass der Roman lange nachhallt.
Ein weiteres Thema ist übrigens auch die Einsamkeit, in der June lebt. June erzählt ihre Geschichte selbst, und der Mangel an Reflektion im Gespräch mit Anderen wird im Laufe des Buches immer größer und spürbarer in Junes Verhalten und Denken.
Rebecca Kuangs Buch wird gerade übrigens im Literaturbetrieb gehypt – worin eine gewisse Ironie liegt, denn literarisch ist der Roman nicht hochanspruchsvoll, aber es gelingt ihr einfach, Themen unserer Zeit in einer packenden Story zu bündeln und zu entlarven. Das ist es wert, gelesen zu werden.
Rebecca Kuang, Yellowface, Übertragen von Jasmin Humburg, Eichborn Verlag, 24 Euro