Annie Ernauxs „Die Jahre“, übersetzt von Sonja Finck, fing mich ein durch eine Kleinigkeit mit großer Wirkung: die durchgehende Verwendung des Wörtchens „man“. Ernaux widmet sich der Zeit zwischen ihrem Geburtsjahr 1940 und dem Jahr 2007. Sie beschreibt diese Jahre nicht in der ersten Person, sondern benutzt das neutrale „man“. Die Distanz, die sie dadurch zu sich selbst schafft, ermöglicht den Lesenden, diese Jahre im Kontext der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Bedingtheiten zu betrachten, denen die Protagonistin ausgesetzt ist. Denen wir alle ausgesetzt sind, die wir in diesen Gesellschaften leben. Der Erzählstil bewirkt etwas, das wie eine Entindividualisierung wirkt, aber doch immer mit der Erzählerin verbunden bleibt. Denn sie ist es, die das „Opfer“ der geschichtlichen Situation ist, die auf die Veränderungen der Zeitläufe reagiert oder sogar selbst im individuellen Rahmen mit an ihnen beteiligt ist. Ernaux hat eine neue Art des autobiographischen Schreibens verwirklicht, die überdies auch noch spannend ist und auf viele Ähnlichkeiten zwischen Frankreich und Deutschland weist. Als Leserin habe ich oft gespürt: ja, das kenne ich auch (noch), ob aus Erzählungen oder ab den 70er Jahren aus eigenem Erleben. Listen, Zeitspannen, Entwicklungen im Zeitraffer belegen diese Ähnlichkeiten und wirken fast wie soziologische Studienergebnisse in poetischer Umgebung. Denn poetisch bescheiden und still ist das ganze Buch. Sehr erhellend sind vor allem die zusammenfassenden Sätze, die sie häufig an das Ende einer bestimmten Zeitspanne setzt, quasi als philosophische Erkenntnis oder Zusammenfassung der Wirkung einer gesellschaftlichen Epoche auf die einzelne Person.
Ein Buch, das sich sehr gut liest und dennoch eine Fülle von Erkenntnissen und Gedanken liefert.
Annie Ernaux, Die Jahre, Suhrkamp Taschenbuch, 11 Euro