Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2023: „Gittersee“ von Charlotte Gneuß – fantastisch

Mit zunehmender Begeisterung habe ich den Debütroman von Charlotte Gneuss gelesen, am Ende fast verschlungen.

Es geht um die 16-jährige Karin, die 1976 in einem Arbeiterviertel Dresdens lebt. Vater, Mutter, ihre kleine Schwester und ihre Großmutter wohnen dort zusammen in eher dysfunktionalem Miteinander. Karin hütet ihre kleine Schwester, setzt sich mit ihrer Mutter auseinander und ist sehr in Paul verliebt. Paul und Rühle wollen mit ihr zusammen nach Tschechien, Karin kann aber nicht mitfahren, weil sie ihre kleine Schwester nicht allein lassen möchte und wohl auch keine Erlaubnis ihrer Eltern bekommen würde. Paul kommt nicht zurück und Karins Welt bricht zusammen.

In dieser Phase zieht die Mutter aus, der Vater und die Großmutter brechen ebenfalls zusammen und Karin lässt sich von dem schleimigen Wickwalz als IM anwerben, der unbedingt herausfinden will, was das mit Paul auf sich hat. Sie möchte helfen und Gutes tun.

Die Geschichte lebt von der Wortgewandtheit der Autorin, die mit verkürzten Sätzen und knappen Andeutungen eine Stimmung erzeugt, in der Karins Innenleben mit den realen Geschehnisse zu einer Wolke verschmilzt. Schwebend treiben wir mit Karin durch einen Prozess der Entwicklung, der nachvollziehbar bleibt und auch noch spannend ist. Die Leichtigkeit, mit der Menschen in Karins Alter manipuliert werden können, ist erschreckend und tatsächlich waren unter einem Prozent der IMs minderjährig.  Das Ende ist unvorhersehbar und verleiht dem Buch einen besonderen Kniff.

Der Aufbau des Romans, die sprachliche Gewandtheit und Vielfalt und das gelungene Einfangen einer vorherrschenden Atmosphäre haben mich vollkommen überzeugt und ich hoffe, dass dieses Buch zumindest auf der Shortlist landet.

Charlotte Gneuß, Gittersee, S. Fischer Verlag, 22 Euro