Ein weiteres Kleinod dieses Herbstes und wieder aus Frankreich ist der Roman „Über die See“ von Mariette Navarro. Eine Kapitänin und ihre ausschließlich männliche Mannschaft brechen mit einem riesigen Containerschiff zu einer Atlantiküberquerung auf. Kurz hinter den Azoren wünschen die Männer ein Bad zu nehmen (echte Seeleute werden hier bereits die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, aber darum soll es hier nicht gehen). Die Kapitänin jedenfalls stimmt zu ihrer eigenen Überraschung zu. Nur sie selbst verbleibt auf dem riesigen Schiff, die Männer werden mit den Rettungsbooten zu Wasser gelassen und tauchen ein in den Ozean. „Nach einer halben Stunde erfahren sie, was es bedeutet, wenn die Zeit stillsteht, das Herz im Hals klopft und ein inwendiger Schrei das Lachen erstickt. Sie sind sich ihrer Nichtigkeit und Unwissenheit schrecklich bewusst.“
Die Kapitänin, ganz allein, bewegen ähnliche existentielle Gedanken. Die Beschreibung dieser inneren Vorgänge erfassen das LeserInnen- Herz und erzeugen eine unglaubliche Spannung, eine Gier danach zu erfahren, wie es weitergeht. Ich habe selten ein Buch gelesen, in dem eigentlich wenig passiert und doch das ganze Menschendasein auf kleinstem Raum bewegt wird. Vorangestellt hat Navarro einige Zitate, als erstes dieses: „Es gibt drei Arten von Menschen: die Lebenden die Toten und die Seefahrer“. Dieser Satz gibt den mystischen Ton an, der in der Handlung wiederzufinden ist. Nach dem Schwimmen sind sie plötzlich ein Mann mehr, es taucht ein Nebel auf, die Maschinen fahren nur noch langsam, Seefahrergeschichten werden erzählt. Die Herleitung des mystischen Elements aus der Seefahrt, dem Meer und die Verknüpfung mit den Menschen an Bord gelingt Navarro so fein und poetisch, dass am Ende der Lektüre Salz und Meer zurückbleiben.
Unbedingt lesen!
Mariette Navarro, Über die See, übersetzt aus dem Französischen von Sophie Beese, Kunstmann Verlag, 20 Euro