Henning Ahrens „Mitgift“ – nominiert für den Deutschen Buchpreis 2021

Eigentlich ist dieser Roman ein Buch über Gewalt, die sich von Generation zu Generation vererbt. Das zeigt sich schnell, doch vordergründig überwiegt zunächst das ländliche Leben in einem niedersächsischen Ort, in dem jeder jede kennt. Die Menschen wissen übereinander Bescheid, über das Werden der Familien, alte Fehden, verlorene Lieben und aktuelle Strukturen. Das Verwobensein in ein Netzwerk lässt Henning Ahrens sprachlich so dicht spürbar werden, dass schon die ersten Seiten seines Buches einen Lesesog erzeugen, dem ich mich nicht entziehen konnte. Zunächst kamen mir auch Vergleiche mit Dörte Hansens „Mittagsstunde“ in den Sinn, doch „Mitgift“ geht tiefer und greift andere Themen des dörflichen Lebens als dessen Wandel auf. Die Familie Leeb, die im Mittelpunkt steht,  und das wird erst im Laufe der Lektüre deutlich, ist durchdrungen von Gewalt, die letzlich zum Suizid des aktuellen Hoferben Wilhelm (so heißen alle männliche Erben) wird. Diese Gewalt äußert sich nicht nur in körperlicher Züchtigung und seelischer Tyrannei, sondern auch in einer psychischen Armut, die als Mittel des Ausdrucks nur Gewalt kennt. Wilhelms Vater geht als überzeugter Nazi freiwillig an die Front im Zweiten Weltkrieg, weil er meint, dies dem Vaterland schuldig zu sein. Die Folgen, die daraus für ihn seelisch und körperlich resultieren, die Zeit, die er allein schon durch die Kriegsgefangenschaft an Lebenszeit verliert, arbeitet er durch Gewalt an der Familie ab. Andere Wege stehen ihm nicht zur Verfügung. Die tradierten Strukturen verbieten es seiner Familie, sich gegen ihn aufzulehnen, den Übergriffigkeiten Einhalt zu gebieten. Das tragische Ende seines Sohnes wird erst im Laufe des Buches eindeutig, und dann umso ergreifender.

Ahrens erzählt hier die Geschichte seiner eigenen Familie und verlegt den Selbstmord seiens Vater vor die eigene Geburt.

Ein komplexer Roman, der durch die kapitelweise wechselnden Zeiten über mehrere Jahrhunderte und sieben Generationen hinweg die gewaltgeprägten Strukturen in der Familie Leeb herausarbeitet.
Großartig und preiswürdig und eine dringende Leseempfehlung.

Henning Ahrens, Mitgift, Klett Cotta, 22 Euro