Ein Roman über Menschlichkeit: „Der Kaiser der Freude“ von Ocean Vuong

Ja, es gibt Menschen, denen die Mitmenschen wirklich wichtig sind. So wichtig, dass sie sogar ihre eigenen Sorgen, von denen es viele gibt, hinten anstellen.

Von solchen Menschen erzählt Ocean Vuong in seinem neuen Roman „Der Kaiser der Freude“.

Hai, ein knapp zwanzigjähriger Amerikaner mit vietnamesischen Wurzeln, kann nicht mehr weiter. Er kann seiner Mutter nicht mehr unter die Augen treten, die stolz auf ihren Medizin studierenden Sohn zuhause auf Nachrichten von ihm wartet, er hat keine Idee, wie er aus seiner Pillensucht herauskommen soll, er weiß nicht, wie man lebt.

Nach einem abgebrochenen Studium in New York hat er seiner Mutter erzählt, er ginge nun nach Boston, aber in Wirklichkeit hat er sich dort nie beworben. Er klettert auf eine Brücke und will sich offenkundig in den Strom herunterstürzen, aber das verhindert Grazina, die in einem verkommenen Haus an diesem Fluss lebt. Er zieht als Pfleger bei ihr ein und lernt von ihr, wie Dämonen besiegt werden können.

„Bist du bereit?“, fragte sie grinsend. Ehe er antworten konnte, trat sie auf eines der Brötchen und stampfte es platt. Dann tat sie das Gleiche mit einem weiteren, das sie durch Hin- und Herdrehen der Fußspitze in den Boden malmte, sodass es zerkrümelte und sich auflöste. „Ist das nicht wunderbar? Jetzt versuch du es mal, Labas.“ Ihr Gesicht war vor Begeisterung gerötet, als sie ihn an der Hand packte und zu sich herzog. „Immer wenn ich merke, wie es in meiner Seele trübe wird“, keuchte sie, „trete ich einfach auf ein paar Brötchen, und das wirkt wie ein Zauber.“

Grazina kennt sich aus mit Dämonen – sie hat den Einzug der Wehrmacht in ihre Heimat Litauen erlebt, die Sowjetzeit und beider Verheerungen ertragen und kämpft nun mit ihren eigenen dämonischen Erinnerungen an diese Zeit und einer beginnenden Demenz. Es ist herzzerreissend, wie Hai derjenige wird, der die Dämonen Grazinas mit ganz eigenen Mitteln zu bekämpfen sucht und gleichzeitig einen Job annimmt in einer Imbisskette. Die Menschen dort, allesamt auf je eigene Weise „am Boden“, kämpfen ums Überleben mit ganz verschiedenen Tricks. Und sie sind füreinander da, was zunächst beinahe traumhaft wirkt. Vuongs Schreiben, sein Stil ist bar jeder Rührseligkeit, er findet sicher die Worte, die das Erzählte herausheben aus einer ganz normalen Geschichte über Underdogs in Amerika. Dazu gehören Geister und Realitäten, die sich aufdrängen, sei es wegen der Demenz bei Grazina oder wegen des Drogenkonsums von Hai, der die echte Wirklichkeit manchmal nicht ertragen kann ohne chemische Hilfe.

Sogar unsympathische Figuren wie Grazinas garstiger Sohn Lucas hinterlassen einen Hauch von Menschlichkeit- er bringt Grazina in ein Heim und damit Hai um seine Wohnstatt und doch erkennt er, was die Beiden füreinander waren in diesem Jahr des gemeinsamen Wohnens. Das Buch erzählt dieses Jahr in großen Kapiteln, die an den Jahreszeiten orientiert sind. Es spart nicht mit Grausamkeiten, als beispielweise ein Teil der Belegschaft von Hais Imbisskette Homemademarket, einem von ihnen bei seinem Nebenjob im Schlachthaus hilft. Diese Szene erfordert viel Kraft, denn das, was dort beschrieben wird, entspricht der Realität.

Ein Roman zum Abtauchen in eine zwar unschöne Wirklichkeit, aber mit einem Personal (übrigens so divers wie die amerikanische Gesellschaft) , das seine Menschlichkeit nicht verloren hat. Damit wird das Buch zu einer wahren Wohltat in einer Welt, in der die mitmenschlichen Bezüge dünner zu werden scheinen.

Ocean Vuong, Der Kaiser der Freude, Aus dem Amerikanischen von Anne-Kristin Mittag und Nikolaus Stingl, Hanser Verlag, 27 Euro