Schon häufiger habe ich auf dieser Seite Bücher von Annie Ernaux begeistert besprochen – und nun hat sie doch tatsächlich den Literatur-Nobelpreis bekommen! Und das neue Buch ist auch, ganz passend dazu, gerade erschienen: „Das andere Mädchen“.
Annie Ernaux schreibt sogenannte autofiktionale Texte, es geht um sie selbst und ihr Leben. Bei Ernaux besteht die große Kunst darin, dass das, was sie beschreibt, häufig allgemeingültig ist. Als Leserin oder auch Leser kann ich mich in ihren Beobachtungen wiederfinden, obwohl es nicht um mich geht – das ist meiner Ansicht nach das Herausragende an Ernauxs Schreiben. Sie versteht es, das Gesehene und Erlebte in eine Sprache zu verpacken, die genau wiedergibt ohne zu interpretieren.
Im neuen Buch geht es um die Schwester Ernauxs, die Annie nie kennengelernt hat, da diese mit sechs Jahren an Diphterie verstarb und Ernaux selbst erst Jahre später geboren wurde. Annie erfährt von der Existenz dieser Schwester nur duch Zufall, als sie die Mutter im Gespräch mit einer Nachbarin über den Verlust reden hört. Was macht das mit der Nachgeborenen, wenn eine Trauer die Eltern stets umweht, wenn der Verlust des einen Kindes eine Überfürsorge für das andere Kind entstehen lässt, wenn also das Verhältnis der Eltern zum zweiten Kind durch den Filter des Verlustes des ersten Kindes geprägt ist? Dieses erforscht Ernaux in „Das andere Mädchen“ – spannend für mich war der Text auch, weil ich durch die vielen anderen Bücher, die ich bereits von ihr gelesen habe, das Verhalten der Eltern aus anderer Perspektive schon kenne und die Wahrnehmung der Person Ernauxs um ein neues Element bereichert wird.
Auch dieses Buch empfehle ich ausdrücklich und wünsche allen, die Ernaux noch nicht kennen, dass sie diese entdecken.
Annie Ernaux, Das andere Mädchen, Übersetzt aus dem Französischen von Sonja Finck, Suhrkamp Verlag, 18 Euro