Arno Frank „Ginsterburg“

Arno Franks schmaler Roman „Seemann vom Siebener“ kann vor dem Hintergrund des neuen über 400 Seiten starken Romans fast wie eine Vorübung gelesen werden, obwohl er ganz für sich ein tolles Buch ist. Es geht um einen Tag im Freibad in einem Ort, der nicht näher benannt wird und wir erfahren eine Menge über verschiedene Menschen, die sich just an diesem Tag dort treffen. Gleichzeitig illustriert der Roman dadurch das ganz normale Kleinstadtleben und die Verwicklungen der dort lebenden Menschen miteinander.

Zur Illustration der Gesellschaft, die Hitler möglich machte, nutzt Frank in seinem neuen Roman nun die fiktive Stadt Ginsterburg. Wir begleiten eine Reihe verschiedener Menschen durch 10 Jahre Hitlerzeit, beginnend 1935. Lothar, ein junger Knabe und Sohn einer verwitweten Buchhändlerin, kann nicht  einmal Frösche töten und muss sich gegen die fiesen Zwillinge des Blumengroßhändlers Otto Gürckel wehren. Dieser ist mittlerweile Kreisleiter und begeisterter Anhänger der „neuen Zeit“. Vor Jahren noch ließ er sich die Zukunft von der Jahrmarktswahrsagerin Zola vorhersagen, jetzt aber, 1935, droht er ihr:

„So schnell mochte Zola ihn nicht gehen lassen. ‚Wollen Sie denn gar nicht wissen, was die Zukunft für Sie bereithält?‘, fragte sie und zog das Seidentuch von der Glaskugel. Der Großhändler setzte den Hut auf die Glatze. ‚Unsere Zukunft nehmen wir jetzt selbst in die Hand‘, sagte er. ‚Und mit solchen spiritistischen Sperenzchen werden wir auch noch aufräumen …‘“

Merle, Lothars Mutter, zieht sich, statt gegen Davidsternschmierereien auf der Fensterscheibe ihrer Buchhandlung vorzugehen, in eine private Liebschaft mit dem Redakteur Eugen zurück und lebt diese im Geheimen. Eugen ist mit Ursel, einer glühenden Hitler-Anhängerin, verheiratet und schummelt sich ebenfalls so durch. Vor 1933 hatte er sogar Kontakt zu Carl von Ossietzkys Weltbühne in Berlin, doch als Journalist kommt er über das übliche Lokalblatt nicht hinaus.

Interessant ist auch die Schwester Ursels, Uta, die sich von ihrem jüdischen Mann Theo trennen muss und nach Ginsterburg zurückkommt. Gürckel gibt ihr eine Arbeit in dem Schloss, das er sich „unter den Nagel gerissen hat“, die sie wahnhaft verfolgt. Sie wird „wunderlich“ über ihren Verlust und die Unterdrückung des Wissens um das Schicksal der Juden und geistert durch die Stadt.

1945 dann geht es um den Feuersturm, dem Ginsterburg zum Opfer fällt. Lothar, hochdekorierter Flieger, leidet immer noch an Zweifeln, wird aber für den Abschuß von über 40 Flugzeugen geehrt.

Alle diese Personen ergeben die Gesellschaft, die Hitler möglich gemacht hat.

Souverän webt Arno Frank die Menschen zusammen, niemand von ihnen ist empathisch, keiner schafft es, das Grauen wirklich zu erkennen und dementsprechend zu handeln, das eigene Hemd sitzt näher. Die Charakterisierungen gelingen dem Autor grandios, das Buch schmerzt beim Lesen, so nah rücken wir den Protagonisten, von denen auch niemand sympathisch ist.

Ein Roman zur Zeit, kann ich wohl sagen.

Arno Frank, „Ginsterburg“, Klett- Cotta Verlag, 26 Euro