Ein berührendes und interessantes Buch hat Michael Köhlmeier gerade veröffentlicht. Eine hundertjährige Architektin erzählt dem von ihr ausgewählten Schrifttsteller namens Michael ihre Lebensgeschichte, vor allem ein besonderes Ereignis, das sich abspielte, als sie 10 Jahre alt war.
Mit ihren Eltern, beide zur sogenannten Intelligenzija gehörend, wird sie 1922 auf ein Kreuzfahrtschiff verbracht, welches sie aus St. Petersburg außer Landes bringt. Auf dem riesigen Schiff befinden sich nur einige wenige Passagiere, die sich stets nur zu den Mahlzeiten treffen. Diese Schiffe wurden auch „Philosophenschiffe“ genannt, weil sie die missliebigen Akademikerinnen und Akademiker versammelten, die in Russland nicht mehr gut gelitten waren und deshalb außer Landes gebracht wurden. Der Urheber der Ausweisung, Lenin, hat dies als «Langzeitige Säuberung Rußlands» bezeichnet.
Nachdem das Schiff einige Tage stillgestanden hat, mitten auf dem Meer, und ein kleines Boot eine Weile danebenlag, beginnt das Mädchen, das Schiff zu erforschen. Schließlich trifft sie auf einen Mann im Rollstuhl, der sich als Lenin selbst entpuppt.
Das Spannende an dem Buch ist die Verknüpfung von Dichtung und Wahrheit: die Hundertjährige hat unseren Autoren eben deswegen ausgewählt, weil ihm der Ruf vorauseilt, es mit der Wahrheit nicht so genau zu nehmen. So könne sie ihm ihre Geschichte erzählen und niemand werde es glauben, argumentiert sie. Für die Leserinenn und Leser des Buches ergeben sich dadurch eine Reihe von Fragen. Aber unabhängig vom Wahrheitsgehalt ist das Buch erschütternd und hochspannend, vor allem, weil ein Kapitel des 20. Jahrhunderts ganz neu beleuchtet und erzählt wird.
Michael Köhlmeier, Das Philosophenschiff, Hanser Verlag, 24 Euro