„Anne Berest geht dem Schicksal ihrer eigenen Familie nach – und landete damit einen preisgekrönten literarischen Coup, der seit Erscheinen im Herbst 2021 auf der französischen Bestellerliste steht.“ Piper Verlag
Damit hatte ich nicht gerechnet, dass dieses Buch so unter die Haut geht. Anne Berest erzählt in „Die Postkarte“ die Geschichte ihrer jüdischen Familie, der Familie Rabinowicz, von der bis auf Myriam alle anderen vier in Auschwitz ermordet wurden. Eine Postkarte bildet dafür den Anlass, auf der vier Namen stehen, ohne Nachnamen, ohne Zusammenhänge, ohne Absender. Sie selbst muss erst mit ausgeprägter Hartnäckigkeit die Informationen zusammensuchen, denn auch ihre Mutter weiß nicht alles über das Schicksal ihrer Großeltern. Ihre Erzählungen jedoch und die Mithilfe eines Privatdetektivs und eines Kriminologen vervollständigen so nach und nach Geschichte der Familie Rabinovicz. Die Postkarte ist übrigens nur ein erster Anlass für Berest, der eigenen Familiengeschichte nachzugehen, ein anderer ist ein Erlebnis ihrer eigenen Tochter, die in der Schule von einem Mitschüler hören muss „Juden mögen wir nicht besonders“. Berest verknüpft so im Roman die Gegenwart mit der Vergangenheit und das führt zu einem enormen Spannungsbogen. Das Geheimnis der Postkarte wird sogar gelöst, ganz am Ende, so dass die Spannung bis zum Schluss hält.
Der Stil des Buches hat mich aufmerken lassen: die Teile, in denen die unfassbaren Grausamkeiten der Nazis beispielsweise bei der Deportation der Französinnen und Franzosen jüdischer Angehörigkeit geschildert werden, sind eher im Reportagestil gehalten. Berest vermeidet jede gefühlsmäßige Anteilnahme in ihrer Wortwahl, wodurch die Schrecken noch krasser wirken. Sie fordert uns nicht durch ihre Sprache zur Teilnahme auf, sie erzeugt diese durch das knochentrockene, beinahe amtliche Schreiben, lässt die grauenhaften Taten ganz für sich sprechen und wirken. Mein Erleben wurde durch diese Sprachwahl sehr verstärkt und ich merke, dass der Roman lange nachhallt. Vieles wußte ich auch gar nicht über die Art der Deportationen in Frankreich und das Schicksal der Deportierten nach der Befreiung 1945, auch das macht dieses Buch sehr wertvoll. Ganz anders dagegen die Teile des Romans, in denen Berest über ihre eigene Zeit spricht, hier ist die Sprache beschreibend und erzeugt durch die Wortwahl Empathie und Gefühl bei den Lesenden. Nicht zuletzt stellt Berest durch die Verknüpfung der Gegenwart mit der Geschichte ihrer jüdischen Familie auch die Frage nach dem Jüdischsein in der Jetzt-Zeit, eine Frage, die ihrerseits viele, viele Fragen und Gedanken aufwirft.
Große Empfehlung!
Anne Berest „Die Postkarte“ Übertragung von Michaela Meßner, Piper Verlag, 28 Euro