Natürlich habe ich sofort den diesjährigen Preisträger-Roman gelesen – eins gleich vorweg: dass „Blutbuch“ die Ehrung bekommen hat, ist eine gute Entscheidung und literarisch nachvollziehbar.
Kim befragt die Kindheit eines Menschen, der sich als nicht-binär erlebt, sich also keinem der beiden definierten Geschlechter zugehörig fühlt. Die Auseinandersetzung findet in Form imaginärer Briefe an die Großmutter (die beginnende Demenz dieser ist der Anlass) des Erzählers statt. Grandmeer (dialektal für Mère) beherrscht einerseits als „Monster“ das Handeln, Denken und Aufwachsen Kims, andererseits erscheint sie zugewandt und liebevoll in ihrem Bemühen, dem Kind Wärme und Liebe zuteil werden zu lassen. Das Problem daran ist, dass die Grandmeer ihren Körper nicht spürt und dieses Unvermögen, diese körperliche Leere an das Kind weiterreicht.
Die Fragen verbindet der Autor mit geschichtlichen Bezügen, die sich über die Generationen weitervererben. Aus dieser transgenerationalen Zwangsläufigkeit will Kim aussteigen. Der Körper, das Gefühl für den eigenen (!) Körper dient hier als Ausgangs-und Bezugspunkt, denn genau dieses Gefühl für die Richtigkeit des eigenen Körpers und dem Vorhandensein eines Gefühls dazu ist es, woran es Kim mangelt. Er füllt seine innere Leere mit der „Blutbuche“ auf, manchmal füllen ihn die beiden „Meers“ auf, als Erwachsener sind es die kraftvollen, ja fast gewaltsamen, sexuellen Begegnungen. Wie diese beschrieben und verknüpft werden mit den Lebensläufen seiner weiblichen Vorfahren, der Hexenverfolgung, der Blutbuche, ist grandios und zeigt den intuitiven Zugang, den Kim als Autor/in mitbringt. Kim sucht „ursprüngliche“ Gefühle, diese Suche bestimmt das Buch. Er und sie verbindet die eigene enorme Gebildetheit mit dem, was aus der Kindheit entgegenschreit und findet eine Sprache für die Suche nach ursprünglichen Gefühlen, für die Ängste, die ihn/sie als non-binären Menschen quälen, die Suche nach einem echten Körpergefühl. Besonders in der Beschreibung der Suche nach ursprünglichen Gefühlen und dem Körpergefühl spricht Kim meiner Wahrnehmung nach potentiell alle Menschen an, ob non-binär oder binär. Die gleichzeitige Gültigkeit des Geschriebenen über das eigene Ich hinaus nimmt mich ganz besonders für dieses Buch ein. Auch hierin zeigt sich das, was Kim selbst „écriture fluide“ nennt.
Sprachlich beeindruckt der Roman durch eine Vielzahl von Wortspielen und Wortschöpfungen, die das Thema körperlich fühlbar machen für die Lesenden, die Sätze und Wörter „schmecken“, sprechen alle Sinne an.
„Blutbuch“ ist anspruchsvoll, sowohl was die Lesegewohnheiten angeht, die automatisch hinterfragt werden durch die Wechsel des Erzählduktus, als auch thematisch. Es geht um ein „Ich“, das umkreist wird und damit im Mittelpunkt allen Fühlens und Sprechens und Untersuchens steht (und eben, wie oben erwähnt, gleichzeitig vielleicht auch exemplarisch ist für Menschen, die sich binär erleben?). Es gelingt Kim, durch überraschende Formulierungen, die nicht artifiziell sondern im Gegenteil wie aus dem Innersten herauskommend wirken, ein fühlbares Gesamtbild zu erzeugen.
Die anderen nominierten Romane, von denen ich einige gelesen habe, hätten natürlich teilweise auch diese Ehrung verdient- aus ganz anderen Gründen. Die Verleihung des Preises an eine/n non-binären Autor*in hat aber den willkommenen Effekt, Sichtbarkeit zu erzeugen von Menschen, die nicht in das übliche Schema passen. NUR deswegen den Preis zu bekommen, wäre mir zuwenig gewesen, es geht ja um Literatur und die Ehrung dieser – doch Kim de L´Horizon erfüllt aus meiner Sicht die Preiswürdigkeit durch seinen mehr als großartigen Roman. Ich freue mich über diese Wahl und lege das Buch allen ans Herz, die Lust und Zeit haben, sich mit einem Werk zu beschäftigen, das keines ist zum schnellen Weglesen (was ja auch ein Kriterium sein kann und wichtig ist für Lesefreuden!) – hier aber wird auch Schmerz und Auseinandersetzung mit eigenen Themen erzeugt durch die enormen literarischen Fähigkeiten Kim de L´Horizons.
Auf der Seite des Verlages gibt es eine kleine Einführung in die das Buch, gesprochen von Kim de L´Horizon selbst.https://www.dumont-buchverlag.de/buch/l-horizon-blutbuch-9783832182083/
Kim de l`Horizon, Blutbuch, Dumont Verlag, 24 Euro